Ute Oswald erkennt Hans-Jürgen S. auf einem Foto als den Mann wieder, der sie vergewaltigen wollte. Der Fall wurde sogar Krimi-Bestseller.

Norderstedt/H.-Ulzburg. "Das ist er!" Als Ute Oswald das Schwarz-Weiß-Foto des jungen Mannes sieht, muss sie sich eine Sekunde fassen. Dann sagt sie noch einmal: "Ja, das ist er." 44 Jahre hat die 65-jährige Rentnerin aus Norderstedt mit der Ungewissheit gelebt, wer der Sexualtäter war, der sie an einem Abend im Frühling des Jahres 1967 überfallen hatte. Jetzt weiß sie: Es war Hans-Jürgen S., der fünffache Frauenmörder aus Henstedt-Ulzburg, der seit Februar dieses Jahres in Untersuchungshaft sitzt.

Das Hamburger Abendblatt hat ein Foto des Maurers aus dem Jahr 1967 Ute Oswald vorgelegt. Sofort war die Erinnerung wieder da. Hans-Jürgen S. war der Mann, der Ute Oswald am Kirschenkamp in Norderstadt aufgelauert und sich vor ihr entblößt hatte.

"Ich habe das Gefühl, dass ich einem Mörder entkommen bin", hatte Ute Oswald am Wochenende gesagt, nachdem sie die Berichte im Abendblatt über die Serie der Sexualstraftaten gelesen hatte, die der 64-jährige Hans-Jürgen S. begangen haben soll (wir berichteten). Bereits 1973 hatte eine Sonderkommission der Kripo vermutet, dass für die Frauenmorde im Raum Norderstedt, den Überfall auf Ute Oswald und anderen Sexualstraftaten derselbe Mann verantwortlich sein könnte. Doch Ute Oswald, die den Vorfall nie vergessen hatte, fehlte die Gewissheit, dass der Mann hinter Gittern sitzt, dem sie damals nur knapp entkommen war. "Jetzt weiß ich, wer das gewesen ist", sagte Ute Oswald gestern. "Das ist wie ein Abschluss."

Ein Ermittler der Norderstedter Kripo befragte die Rentnerin gestern Nachmittag zu der exhibitionistischen Tat vor 44 Jahren. Sein Bericht geht an die Mordkommission in Kiel, die wegen der Morde ermittelt. "Wir wollen so zügig wie möglich eine Anklage erheben", sagte Matthias Daxenberger von der Staatsanwaltschaft Kiel.

Hans-Jürgen S. sitzt in der Untersuchungshaftanstalt Neumünster. Er hatte vier Sexualmorde zwischen 1969 und 1972 sowie eine Tat im Februar 1984 gestanden. Die Mordkommission prüft aber intensiv, ob er für weitere Verbrechen an Mädchen und jungen Frauen aus dem Großraum Hamburg verantwortlich ist.

Bei vielen der Hinterbliebenen der Opfer, deren Fälle noch ungeklärt sind, werden in diesen Tagen alte Wunden wieder aufgerissen. Die Bilder und Erinnerungen, nicht verarbeitet, sondern nur verdrängt, waren sofort wieder da, als Erna K. gestern die Zeitungen aufschlug und darin das Bild ihrer ermordeten Tochter Hannelore entdeckte. Die 13-Jährige starb am 21.Dezember 1970 im Barsbütteler Ortsteil Stemwarde (Kreis Stormarn).

Auch mehr als 40 Jahre nach der grausigen Tat fällt es der Mutter schwer, ihre Gefühle auszudrücken. "Ich habe in all den Jahren immer wieder an sie gedacht, aber nie mit jemandem darüber gesprochen", sagt die 72-Jährige. Sie hofft nun, dass der Mörder ihrer Tochter gefasst ist. Sie und ihr 73 Jahre alter Ehemann Gustav möchten endlich Gewissheit haben. "Jedoch müssen wir erst abwarten, was da noch kommt", sagt die sechsfache Mutter.

Serienmörder Hans-Jürgen S. kommt aus Sicht der Ermittlungsbehörde auch für das Verbrechen an Hannelore K. in Frage. "Wir werden jetzt den Fall erneut prüfen", sagt die Kieler Oberstaatsanwältin Birgit Heß. "Die Kleidungsstücke und andere Dinge, die wir damals am Tatort gefunden haben, werden jetzt noch mal unter speziellem Licht auf DNA-Spuren des Täters untersucht."

Bei seiner Vernehmung bestritt Hans-Jürgen S. allerdings, Hannelore K. entführt, vergewaltigt und erdrosselt zu haben. Die Familie war nach der Ermordung ihrer Tochter aus Barsbüttel weggezogen.

Wenn ein Täter nach einem Verbrechen nicht gefasst wird und damit ohne Strafe bleibt, werde es für die Hinterbliebenen sehr schwer, den Verlust eines Angehörigen zu verarbeiten, sagt Dr. Joachim Graul, Leitender Psychologe in der Schön-Klinik in Bad Bramstedt. Die Betroffenen seien nicht in der Lage, mit dem Verlust emotional abzuschließen, weil sie Gerechtigkeit fordern und verstehen wollen, was geschehen ist. "Wenn der Täter endlich gefasst wird und die Motive klarer geworden sind, können viele Hinterbliebene beginnen, von ihren Angehörigen ein zweites Mal Abschied zu nehmen", sagt Graul.

Den meisten Betroffenen sei klar, dass Sühne und Verurteilung den Verlust nicht ersetzen werden. Graul: "Aber es söhnt aus, dass der Täter nicht einfach davonkommt und Verantwortung für seine Taten übernehmen muss."

Graul hat sich auch mit dem Abendblatt-Bericht über Ute Oswald beschäftigt. "Nach so langer Zeit werden wieder Erinnerungen wachgerüttelt und Gefühle aktiviert", sagt der Psychologe. Die Betroffenen, die einem Verbrecher entkommen konnten, und ihre Angehörigen durchleben erneut die Tiefen von Ohnmacht, Verzweiflung und Bedrohung von damals.

Sowohl bei Opfern von Gewalttaten als auch bei Hinterbliebenen können die langfristigen psychischen Folgen sehr unterschiedlich sein, erläutert Graul. Sie reichten von Verbitterung bis zu Depressionen oder Belastungsstörungen. Schaffen es die betroffenen Personen, das Erlebte zu verarbeiten, können sie sich dem gegenwärtigen Leben wieder zuwenden, sagt der Psychologe. Graul: "Die beste Hilfe sind offenherzige und zugewandte Mitmenschen aus dem eigenen Umfeld, die es ermöglichen, über die Gedanken und Gefühle, die anlässlich der Verhaftung des Täters wieder ausgelöst werden, frei zu sprechen, und die bereit sind, dies mitzutragen."

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