Drei Menschen erzählen, wie sie von jugendlichen Schlägern überfallen und verletzt wurden. Und wie das ihr Leben für immer verändert hat.

Hamburg. Ihr Leben hat sich von einem Moment auf den anderen verändert. Es war der Moment, in dem sie zu Opfern wurden. Opfer von teilweise unfassbarer Gewalt. Stephen Sch., 20, Lukas R., 47, (Name geändert) und Christel W., 71, haben sich verändert, seit sie überfallen und zum Teil lebensgefährlich verletzt worden sind. Gestern stellte der Senat sein Konzept gegen Gewalt, insbesondere gegen Gewalt von jungen Menschen vor (Bericht unten). Die CDU-Politiker und Teile der Polizei versprechen sich davon, Taten wie die, die wir hier schildern, einzudämmen. Drei Gewaltopfer erzählen ihre Geschichte.

Stephen Sch. leidet an epileptischen Anfällen. Seit fast einem Jahr wird ihm ein- bis zweimal im Monat schwarz vor Augen. "Und dann kippe ich um." Damit das nicht häufiger passiert, nimmt er starke Medikamente. Deshalb darf er auch keinen Führerschein machen. Obwohl er den als Auszubildender des Garten- und Landschaftsbaus gut gebrauchen könnte.

Verantwortlich dafür sind drei Jugendliche, die ihn am 20. März vergangenen Jahres gegen Mitternacht in der Nähe des Bahnhofs Billstedt überfallen haben. Der 20-Jährige holt dort seine Freundin ab, damit sie den Weg zu ihm nach Hause nicht alleine gehen muss. Plötzlich tauchen drei 14, 15 und 18 Jahre alte Jugendliche auf. Sie verlangen Geld und schlagen sofort zu. Der 15-Jährige erweist sich als besonders brutal. Immer wieder tritt er gegen den Kopf des Lehrlings. Dessen Freundin wird auch verletzt, weil sie versuchte, seinen Kopf vor den Tritten der Angreifer zu schützen.

Zehn Wochen liegt Stephen Sch. anschließend im Krankenhaus, zwei Tage davon im Koma. Anschließend muss er in vier Wochen Reha das Sprechen und Trinken wieder erlernen. Seine linke Gesichtshälfte wird er nie mehr bewegen können. Und sehr wahrscheinlich muss er sich in ein bis zwei Jahren noch einmal am Kopf operieren lassen, weil die Gehirnblutungen, die er erlitt, dazu führen können, dass der Hirnwasserabfluss gestört wird. Ärzte bezeichnen diesen Eingriff als riskant.

Rache- oder Hassgefühle gegenüber den Tätern habe er anfangs gehabt, sagt Stephen Sch. "Aber heute nicht mehr. Dafür habe ich zu viel um die Ohren." Der 15 Jahre alte Haupttäter musste für viereinhalb Jahre ins Gefängnis. Die Mittäter erhielten zwei Jahre und drei Monate sowie eine zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe. "Ich hatte mir zuerst mehr erhofft. Aber für die Minderjährigen ist das okay."

Erwachsen sei er geworden. Diese Veränderung fällt dem 20-Jährigen als erste ein. "Ich mache weniger Scherze, gehe respektvoller mit Menschen um." Verarbeitet habe er den Angriff noch nicht. Er geht an Wochenenden nicht mehr alleine los, nur noch in Begleitung von Freunden. "Ich frage mich immer, warum die das gemacht haben. Das war doch so sinnlos."

Lukas R. bricht seine Touren regelmäßig um 2 Uhr in der Nacht ab. "Wenn es ruhig wird auf den Straßen, fühle ich mich nicht mehr sicher", sagt der 47 Jahre alte Taxifahrer. Es liegt nicht an der Dunkelheit, es ist die Uhrzeit. "Da bin ich noch lange nicht durch." Eine Nacht im Juli vergangenen Jahres hat sein Leben völlig verändert. Kurz nach 2 Uhr steigt eine junge Frau zu ihm ins Taxi. Geld habe sie keins. Ihre Mutter werde ihr welches geben. "Als wir dort angekommen sind, war die Mutter nicht zu Hause." Plötzlich greift ihn die 19-Jährige vom Rücksitz aus an. "Sie hat nicht nach Geld gefragt. Nichts. Sie kam einfach mit dem Messer, hat einfach losgelegt." Sie schneidet ihm ins Gesicht, sticht auf ihn ein. Lukas R. ist blutüberströmt, als er seinen Gurt löst und sich aus dem Wagen ins Freie rettet.

"Sie wollte mir die Kehle durchschneiden", glaubt der 47-Jährige heute. Er muss an fünf Stellen genäht werden. Über die Täterin weiß er nicht viel und will es auch nicht. "Sie wurde am gleichen Tag wieder entlassen, hat einen festen Wohnsitz. Sie soll eine Wiederholungstäterin und auf Drogen gewesen sein. Wie man sie freilassen kann, das verstehe ich nicht. Sie hat mir die Kehle durchschneiden wollen."

Ihn belastet, dass er es sich nicht leisten kann, als Nebenkläger aufzutreten. Auf Prozesskostenhilfe hat er im Gegensatz zu der Täterin keinen Anspruch. "Die finanziellen Einbußen, die ich durch die Ausfälle habe, sind das kleinste Problem. Schlimm sind die Narben, die ein Leben lang bleiben. Ich kann keine kurzen Haare mehr tragen. Das sieht fürchterlich aus."

Seine Schlafstörungen und die Albträume sind nur langsam verschwunden." Mit seiner Frau kann er über alles reden, das tröstet ihn. Psychologische Hilfe hat er bislang nicht angenommen, doch er denkt darüber nach. Mit dem Taxifahren aufhören, das kann er nicht. Er sieht es als Teil seiner eigenen Therapie. Aufzuhören würde ihn viel mehr belasten. Dennoch: "Damals habe ich mich sicher gefühlt. Heute macht es nicht mehr so viel Spaß. Ich scanne jeden Fahrgast ab."

Christel W. hat Angst vor der Rache des Täters. Der Jugendliche schlug und trat sie krankenhausreif - sie und noch zwei weitere Senioren, darunter auch ihren schwer kranken Ehemann.

Vergessen kann die 71-Jährige bis heute nicht, was am 4. Juli 2009 geschah. Kann das Gesicht des Täters, der in ihrer eigenen Wohnung auf sie eindrosch "wie ein Tier", nicht aus der Erinnerung löschen. Seither lebt sie mit der Angst. "Noch heute zucke ich zusammen, wenn ich im Flur ein Geräusch höre", sagt Christel W.

Die Rentnerin lebt mit ihrem Ehemann Erwin W. im Seniorenzentrum am Böttcherkamp in Lurup, dritte Etage. Am frühen Morgen des 4. Juli ist sie schon wach, weil ihr Mann zur Dialyse muss. Gegen 5.30 Uhr hört Christel W. ihre Nachbarin Siglinde L., 74, schreien. Die 71-Jährige öffnet die Tür, da huscht Martin G. in ihre Wohnung. Der 19-Jährige, der zuvor im Alkohol- und Kokainrausch schon mehrere Autos demolierte, hat es auf das Geld der Rentner abgesehen. Er schlägt Christel W. ins Gesicht, versetzt ihr einen wuchtigen Tritt, sodass die alte Dame gegen einen Hocker knallt.

Ihr Mann Erwin, der auf einen Gehwagen angewiesen ist, will ihr helfen - auch auf ihn drischt der Räuber ein. Nach einem Fausthieb geht der Senior bewusstlos in die Knie. Bevor der 19-Jährige flüchtet, bricht er noch einem weiteren Nachbarn die Nase.

Siglinde L., das erste Opfer von Martin G., erleidet schwere Gesichtsverletzungen und noch im Krankenhaus einen Herzinfarkt. Christel und Erwin W. hat der Täter grün und blau geschlagen. In psychologischer Therapie versuchen die Senioren, mit der Sache fertigzuwerden. Doch der Schock sitzt zu tief.

Drei Monate später steht Martin G., ein junger Mann mit drahtiger Figur, vor dem Amtsgericht Altona. Eine Konfrontation mit ihrem Peiniger erträgt Christel W. nicht - erst als er den Gerichtssaal verlässt, sagt sie aus. Bevor er zu fast vier Jahren Jugendhaft verurteilt wird, sagt Martin G., ihm tue das alles fürchterlich leid. Vor Gericht tut es fast allen immer fürchterlich leid.

Christel W. hat noch heute Schmerzen im Rücken, und die Frage nach dem Warum ist genauso geblieben wie die Angst. Die Angst vor Geräuschen im Korridor. Die Angst vor der Rache des Täters, der spätestens in zwei Jahren wieder frei herumlaufen wird. Die Angst, in den eigenen vier Wänden nicht sicher zu sein.

Ihren eigenen Sohn habe sie zu einem guten Menschen erzogen, sagt Christel W. wie selbstverständlich. Aber was ist, fragt sie sich, bei diesem Kerl, diesem Martin, schiefgelaufen? Sie kann es nicht verstehen. "Und verzeihen schon gar nicht."