Vier Rücktritte und ein Referendum - in den Ferien überstürzten sich die Ereignisse. Nach der Sommerpause ist vieles anders. Eine Bilanz.

Hamburg. Es sind bald 40 Grad an diesem Tag im Juli nahe der deutsch-polnischen Grenze, die flimmernde Hitze lässt Erinnerungen an Alltag und zu Hause verblassen. Bis der Wagen mit HH-Kennzeichen an einer Tankstelle hält und der Beifahrer auf dem Weg zur Kühltruhe beinahe über seine Badelatschen stolpert: Von einem Zeitungsständer, prall gefüllt mit Tagespresse, brüllt dem Kunden nur ein Wort entgegen: "Hamburg". Bürgermeister zurückgetreten, Volksentscheid verloren, Führungskrise der CDU. Auch wer sich geschworen hatte, im Urlaub keine Nachrichten zu lesen, verschlingt nun die Aufmacher, die mit dem Finger auf die Hansestadt zeigen.

Dabei ist das nur der Siedepunkt in den politisch heißesten Sommerferien seit Jahrzehnten. Alles beginnt am 8. Juli. Am ersten Ferientag weht ein schwacher Südwind durch die Stadt und treibt die Temperatur mal wieder an die 30-Grad-Marke. Die ungewohnte Hitze lähmt die Hamburger, die Stimmung ist nach dem WM-Aus der deutschen Fußballer am Abend zuvor gedrückt, und Ole von Beust spricht über Abschied - allerdings nur den von US-Konsulin Karen Johnson. Danach reist er nach Sylt und lässt die Stadt allein mit den Spekulationen über seinen eigenen Rücktritt.

Rund vier Wochen später: Ein entspannter Ole von Beust blickt über die weite Dünenlandschaft seiner Lieblingsinsel. Es ist noch immer Hochsommer, auch wenn etliche Regenwolken über den weiten Himmel jagen. Drei Wochen des Nachdenkens liegen hinter ihm. Drei Wochen ist es her, seit er am 18. Juli in einem spektakulären Schritt seinen Rücktritt zum 25. August erklärte - unmittelbar vor Schließung der Wahllokale beim Volksentscheid über die Primarschule.

Eine derart dramatische Choreografie eines Bürgermeister-Rücktritts hat die Stadt noch nicht erlebt: Erst monatelange Spekulationen über einen möglichen Rückzug nach fast neun Jahren im Amt. Ein ums andere Mal weist von Beust alle Demissionsabsichten zurück - bis zuletzt, als er längst entschlossen war zu gehen. Nach so langer Zeit im Amt, bekennt er später, fühle man sich "durchgenudelt".

+++Der Liveticker zum Volksentscheid zur Schulreform+++

Von Beust ist auf Sylt mit sich und seiner Entscheidung im Reinen. Er weiß aber auch, dass er etliche Weggefährten und Mitstreiter vor den Kopf gestoßen hat. Allen voran den Koalitionspartner GAL, für den er eine Art Garant des ungewöhnlichen schwarz-grünen Bündnisses war.

Die CDU-Spitze hat ihren Schlachtplan längst entworfen: Innensenator Christoph Ahlhaus soll Nachfolger von Beusts werden, ein wahrlich schwerer Brocken für die Grünen. Anders als von Beust gilt der kantige Innensenator nicht als liberales Aushängeschild seiner Partei. Der Koalitionspartner ist ein wenig verschnupft.

Am 18. Juli selbst geht es Schlag auf Schlag: Um 16 Uhr verkündet von Beust dem CDU-Landesvorstand seine Entscheidung. Einstimmig nominiert die Parteispitze Ahlhaus als neuen Bürgermeister. Vor der CDU-Zentrale am Leinpfad versammeln sich Passanten, erst 20, dann 50, schließlich 100. "Was geschieht denn da drinnen?", wollen einige wissen, die sich über den Medienauflauf wundern. "Der Bürgermeister tritt zurück!" Schade, sagen viele. "Konsequent", meinen andere. Um 17.10 Uhr geht Ole von Beust zum Auto, ruft den Journalisten nur zu: "Wir sehen uns gleich im Rathaus."

1. Die Rücktrittserklärung von Ole von Beust

2. Die Rücktrittserklärung von Kultursenatorin Karin von Welck

3. Porträt: Ole von Beust – Hanseat durch und durch

4. Porträt: Christoph Ahlhaus - der designierte Nachfolger

Um 17.40 Uhr treten von Beust, Ahlhaus und Schira dort, auf dem "Spiegel" vor der Senatslaube, vor die Medien. "Heute habe ich dem Präsidenten der Hamburgischen Bürgerschaft meinen Rücktritt vom Amt des Ersten Bürgermeisters mit Wirkung zum 25. August 2010 mitgeteilt", sagt von Beust mit leicht belegter Stimme.

Mit seinem Rücktritt aus nicht bedrängter Lage schafft er es in die Feuilletons der überregionalen Blätter. Darf man einfach so gehen, weil man keine Lust mehr hat? Wo bleibt da die Verantwortung der Stadt gegenüber? Andererseits: Wird nicht immer kritisiert, dass Politiker an ihren Ämtern kleben?

Nun geht einer ohne Not. Und mit ihm, ebenfalls unerzwungen, geben auch Kultursenatorin Karin von Welck (parteilos) und später auch Wirtschaftssenator Axel Gedaschko (CDU) ihre Ämter auf. Horst Köhler war da schon weg, der Hesse Roland Koch will auch gehen. Die Republik diskutiert über die Politiker, die aus ihren Ämtern flüchten.

Der schwarz-grüne Schicksalstag, der 18. Juli, ist mit der Demission von Beusts aber noch nicht zu Ende. Zwischen zwei Tiefschlägen für den Senat liegen an diesem Abend nur wenige Stunden und die Rathausdiele. Kurz nachdem von Beust im Senatsflügel seinen Rücktritt angekündigt hat, flimmern gegenüber, auf der Seite der Bürgerschaft, erste Zahlen zum Volksentscheid über die Primarschule über die Bildschirme. Reformbefürworter und ihre Gegner sammeln sich in Raum 151.

Monatelang hatte die Stadt auf diesen Tag gewartet, hatten Walter Scheuerl als Sprecher der Reformgegner und Schulsenatorin Christa Goetsch (GAL), die mit der Einführung einer sechsjährigen Primarschule ein leuchtendes Signal im bundesweiten Bildungsstreit setzen will, unversöhnlich duelliert.

Doch am Abend des 18. Juli wird der bürgerliche Widerstand, über dessen Rückhalt in der Stadt seit Monaten nur spekuliert worden war, gnadenlos sichtbar. In Zahlen. Während Scheuerl immer leichtfüßiger durch den Raum schlendert, leicht grinsend trotz saurer Gurke auf dem halben Wurstbrötchen, lehnt Linken-Fraktionschefin Dora Heyenn mit freudloser Miene am Rand des Raums. Das schwarz-grüne Projekt ist ein fraktionsübergreifendes, auch Linke und SPD stehen dahinter. Es steht viel auf dem Spiel.

Um 22.03 Uhr ist das Spiel aus. Rund 58 Prozent der Wähler lehnen die Primarschule ab. Die Reformbefürworter sind da schon lange aus dem Rathaus geflüchtet, allein SPD-Chef Olaf Scholz ist noch auf dem Posten. Was hängen bleibt, ist das Fazit der Schulsenatorin: "Das ist ein ziemlicher Scheißtag."

Auch wenn sich Maria Jepsen natürlich nie so ausdrücken würde, entsprach das zwei Tage zuvor wohl auch ihrer Gemütslage. Am Freitag, 16. Juli, ist es in Hamburg auch um 17 Uhr noch 30,4 Grad heiß, als die Bischöfin ihren Rücktritt erklärt. Die 65-Jährige, die 1992 als weltweit erste Frau zur Bischöfin gewählt worden war, fasst den Entschluss, einen Tag nachdem bekannt geworden war, dass eine Zeugin versichert hatte, sie hätte die Bischöfin bereits 1999 über die schweren Missbrauchsvorwürfe gegen den Ahrensburger Pastor Dieter K. informiert. Jepsen will erst im März dieses Jahres von den Vorfällen erfahren haben. "Ich lüge nicht, und ich kneife nicht", sagte sie noch am 14. Juli in einem Interview mit dem Abendblatt. Dann der für viele überraschende Schlussstrich. "Meine Glaubwürdigkeit wird angezweifelt", begründet sie ihren Schritt. Ob sie Fehler gemacht habe, ließ sie offen.

Bei Hans-Peter W. ist das unstrittig. Der entlassene Sexualstraftäter kommt Ende Juli nach 30 Jahren Haft aus Freiburg nach Hamburg. Nach einer Hetzjagd quer durch die Republik will er in der Anonymität der Metropole ein neues Leben beginnen. Der 53-Jährige löst eine bundesweite Diskussion über das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus, das eine nachträgliche Sicherungsverwahrung verbietet. Die Hamburger CDU-Rechtsexpertin Viviane Spethmann fordert ein Spezialgefängnis für Norddeutschland, in dem Straftäter ähnlich einer Wohngemeinschaft leben. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) unterstützt die Forderung, FDP-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat Bedenken, Hamburgs Innensenator Christoph Ahlhaus wirft ihr daher "Untätigkeit" vor. Besorgte Eltern lassen ihre Kinder nicht mehr ins Niendorfer Gehege - W. ist dort in einem alten Fachwerkhaus untergebracht, 24 Polizisten bewachen ihn rund um die Uhr.

Unterdessen arbeitet Ahlhaus an dem Wandel zum Bürgermeister. Er eröffnet das Weinfest und den Dom, kommt zur Premiere von "Evita" und einer Hip-Hop-Show. Am 9. August landet er aber einen letzten innenpolitischen Paukenschlag. Er lässt die Taiba-Moschee in St. Georg schließen, die im Verdacht steht, Brutstätte des islamischen Terrorismus zu sein. Als das Haus noch Al-Kuds-Moschee hieß, gingen hier die Attentäter des 11. September 2001 ein und aus. "Ein angeblicher Kulturverein hat hinter den Kulissen die Freiheiten unseres demokratischen Rechtsstaats schamlos ausgenutzt, um für den ,Heiligen Krieg' zu werben", erklärt Ahlhaus die vom Gericht genehmigte Maßnahme.

Noch gar nicht im Amt, hat er dem Noch-Bürgermeister damit schon etwas voraus. Ole von Beust schaffte es mit Volksentscheid und Rücktritt "nur" bundesweit in die Schlagzeilen. Ahlhaus' Moschee-Schließung wurde auch in London und New York beachtet - und nicht nur von Reisenden aus Hamburg.