Der 53-Jährige betreut seit 18 Jahren Soldaten in Krisengebieten. Der Militärseelsorger ist ihr Wegbegleiter, Zuhörer und ihre Vertrauensperson.

Hamburg. Rainer Schadt verspürt einen dicken Kloß im Hals, als er vor dem roten Backsteingebäude steht. Er zögert kurz, legt sich einige Worte zurecht, bevor er zur Haustür geht und klingelt. Die Ehefrau eines Soldaten öffnet die Tür. Militärdekan Rainer Schadt und der Vorgesetzte ihres Mannes stellen sich vor. Die Frau schaut die beiden ungläubig an. Bei den Worten "Ich muss Ihnen leider mitteilen ..." wird sie blass. Ihre Lippen beben, ihr Blick wird starr.

Es ist die Nachricht, dass ihr Mann nicht lebend aus Afghanistan zurückkehren wird. Ihre Knie werden weich, dann sackt sie auf den Boden. Rainer Schadt fängt sie auf und will sie trösten. Das ist sein Job. Ihr Mann ist nicht im Gefecht gefallen, sondern hat sich das Leben genommen. Einen Abschiedsbrief gibt es nicht. Die Frage nach dem Warum bleibt offen. Auch Rainer Schadt hat keine Antwort. Er kann nur da sein.

Für den Militärdekan ist es die Erinnerung an das 13. Mal. 13-mal musste der Mann mit dem warmen Händedruck bereits schlechte Nachrichten überbringen. Gewöhnen wird sich der 53-Jährige nicht daran.

Als Schadt 1987 zum Militärpfarrer ernannt wurde und in die Militärseelsorge eintrat, war die Welt noch anders. Sie war in Ost und West geteilt. Die Bundeswehrsoldaten übten den Dritten Weltkrieg. Doch Kampfeinsätze gab es nicht. "Das größte Problem der Jungs war, ihre Wehrpflichtzeit rumzukriegen", sagt der Militärdekan, der heute im Norden Deutschlands für 19 seelsorgerische Dienststellen zuständig ist. Er lehnt sich in einem Sessel zurück, der in seinem Dienstbüro im Flottenkommando in Glücksburg steht, und schmunzelt. Viele kleine Lachfalten umgeben seine wachen blauen Augen. Wie ein Geistlicher der katholischen Kirche in Führungsposition wirkt er nicht. Eher wie der nette Mann von nebenan, der gut zuhören kann. Dem man Vertrauen schenkt.

Wenn Rainer Schadt von seiner Anfangszeit in der Militärseelsorge spricht, muss er an die große Gelassenheit unter den jungen Männern denken, die stets einen Scherz parat hatten. Vergangenheit. "Es hat sich vieles verändert", sagt er und fasst sich nachdenklich an sein goldfarbenes Brillengestell. Die Soldaten nehmen ihren Auftrag ernster. Die Abschiede von zu Hause werden länger. Die Freude, unversehrt wieder nach Hause zu fahren, wird größer. "Früher ging es bei Einsätzen wie etwa in Somalia in erster Linie um humanitäre Hilfe." Heute hat das Kämpfen Priorität. Aus Geländespielen ist Krieg geworden. Soldaten töten und werden getötet. Und die Angst ist allgegenwärtig.

Einige bekommen das in den Griff. Andere zerbrechen daran. Sie leiden unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Ihre Zahl ist 2009 stark gestiegen. Allein im Bundeswehrkrankenhaus in Hamburg sind im vergangenen Jahr 183 traumatisierte Soldaten behandelt worden.

In den Feldlagern sind es die Militärseelsorger, die Hilfe anbieten. Sie sind Wegbegleiter, Zuhörer, Vertrauensperson. "Die Militärseelsorge war noch nie so wichtig und bedeutsam wie heute", sagt Schadt. Er unterstreicht die Worte mit einer ausladenden Handbewegung. Mit den Geistlichen ins Gespräch zu kommen, sei nicht jedermanns Sache. "Wenn es dem Militärseelsorger aber gelingt, das Vertrauen der Soldaten zu gewinnen, wird dir ein Ohr abgekaut", sagt Schadt. Ein kurzes Lachen. Keine Betroffenheitslyrik. Keine Schnörkel. "Mit frommen Sprüchen oder den Zehn Geboten muss ich den Soldaten gar nicht erst kommen."

Hochseefischerei - das sei Militärseelsorge für ihn. Im Gegensatz zum "binnenkirchlichen Bereich" in einer Pfarrgemeinde arbeiteten die Menschen in der Militärseelsorge an der Nahtstelle zwischen Kirche und Staat. "Mit jungen Menschen, die Uniformen und Waffen tragen. Die zum Teil weder katholisch noch evangelisch sind", sagt Schadt. Einige von ihnen haben weder jemals das Vaterunser gebetet noch eine Kirche von innen gesehen. Aber im Feldlager spielt das keine Rolle. "Wir sind dort im Einsatz, um für die Menschen da zu sein, die Tausende Kilometer von ihrem sicheren Zuhause entfernt sind." Nur darauf kommt es an. Rainer Schadts erste Mission in einem Krisengebiet liegt fast 18 Jahre zurück. Vier Monate lang war er damals in Kambodscha. "Ein Einsatz, der mich geprägt hat." Dort habe er zum ersten Mal Menschen gesehen, denen durch Minen Körperteile abgerissen worden sind. Schadt hat die Sterbenden begleitet. Die Toten beigesetzt, die keine Angehörigen mehr hatten. Es sind Bilder, die ihn bis heute verfolgen. "Aber ich möchte sie auch gar nicht verdrängen, um mir der Ernsthaftigkeit der Einsätze bewusst zu bleiben."

Rainer Schadt lebt in zwei Welten. "Als ich mit dem Flieger wieder in Frankfurt gelandet bin, habe ich mich wie ein Alien gefühlt", sagt er. Auf der Titelseite einer Tageszeitung habe er die Schlagzeile "Deutschland: Angst vor neuen Postleitzahlen" gelesen. Ein Satz, der wohl nur absurd klingen kann, wenn man gerade aus einer Welt kommt, in der alle schusssichere Westen und Stahlhelme tragen. Diese andere Welt ist für Schadt jeden Tag präsent. Ein Foto, das in seinem Dienstbüro in Glücksburg hängt, erinnert den Militärdekan an seinen ersten Einsatz. Das Bild zeigt ihn in Uniform, ein Baby auf dem Arm, ein Kleinkind an seinem Hosenbein zerrend. "Es ist in einem Waisenhaus in Phnom Penh aufgenommen worden." Schadt erinnert sich gerne an diesen Moment. Ebenso wie an das neugeborene Baby im Feldhospital, dessen Mutter verschwunden war, und um das er sich drei Wochen lang gekümmert hat. "Dort kann eben auch ein katholischer Pfarrer zum Kurzzeitvater werden."

Es sind die Momente, in denen unberührt bleiben unmöglich ist, die im Gedächtnis bleiben. Wie der Tag, als Schadt mit Soldaten in Somalia auf dem Weg vom Feldlager zum Flughafen gestoppt wurde. "Als die anderen ihre Waffen auf uns gerichtet haben, ist mein Adrenalin innerhalb von Sekunden hochgeschnellt." Ganz simple Mechanismen wie "Rübe runter und in Deckung gehen" setzten in solchen lebensbedrohlichen Lagen ein. "Mein einziger Gedanke war: Hoffentlich kommt es nicht zum Kampf. Hoffentlich kommen hier alle lebend raus." Alle kamen lebend heraus. Aber nicht unbeschadet. "Ein Soldat litt unter einem Trauma. Bei einem Gefecht war er mit Kameraden unter massiven Beschuss geraten. Danach hat er mir im Lager gesagt, dass er es nicht mehr aushält." Auf dem Rückweg nach Deutschland hat er bei Rainer Schadt eine Lebensbeichte abgelegt. Es war harter Stoff. Der Rest ist Beichtgeheimnis.

Ein anderes Mal hat er Angehörige von Soldaten, die bei einem Attentat auf einen Bus ums Leben gekommen waren, nach Kabul begleitet. "Ich habe mit ihnen am Unfallort Abschied von den Verstorbenen genommen", sagt Rainer Schadt. Von Ehemännern, Söhnen, Freunden. "Extrem bedrückend." Warum passiert so ein Unglück? "Manchmal muss man ehrlich sein und sagen: Ich weiß es nicht."

Ergibt der Einsatz in Afghanistan Sinn? Ein Krieg, bei dem erst vor wenigen Wochen sieben deutsche Soldaten getötet wurden, aber auch Verbündete und viele Afghanen ihr Leben verloren haben. Rainer Schadt überlegt. "Die Soldaten erkennen den Sinn. Sie befinden es für richtig und gut, dass sie den Menschen dort helfen." Vielleicht halten sich einige Soldaten an dieser Sichtweise auch wie an einem Strohhalm fest. So wie an der Post von zu Hause, die für die Männer im Lager überlebensnotwendig ist. Weil die Briefe die Nabelschnur zum Leben zu Hause sind. "Wichtig ist, dass es einen politisch-gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, warum und wofür wir die Männer in Krisengebiete schicken. Den muss es geben." Davon ist Schadt überzeugt. "Die Soldaten dürfen ihren Einsatz vor Ort nicht infrage stellen. Sonst landen sie in einer Sackgasse." Doch den Konsens, den gibt es nicht. Die Menschen sehen den Krieg in Afghanistan kritisch. Stellen ihn infrage. Der Militärdekan hält das für problematisch: "Die deutschen Soldaten fühlen sich von der Gesellschaft nicht in vollem Maße unterstützt."

Rainer Schadt reist noch in diesem Jahr ins Feldlager nach Afghanistan . Einer seiner Militärpfarrer sei vor Ort. "Es ist sein erster Einsatz." Der Militärdekan, den nur wenig aus der Ruhe zu bringen scheint, kann mitfühlen. "Ich will ihn unterstützen, erfahren, wie es ihm geht." Er klingt wie ein Vater, der sich um eines seiner Kinder sorgt. Zudem sei er froh, mit den Soldaten in Kontakt zu kommen. Seitdem er 2003 zum leitenden Dekan ernannt wurde, hat er dazu nur selten Gelegenheit. "Als Militärdekan ist es meine Aufgabe, die Militärpfarrer zu stärken und bei Problemen Lösungen anzubieten." Aber wenn er dieses Jahr in Kundus ist, wird er auch wieder mit den Soldaten sprechen. "Ich kann ihnen zumindest ein kurzer Wegbegleiter sein."

Im Feldlager spielt es keine Rolle, ob er Dekan oder Pfarrer ist. Die beruflichen Ränge verblassen in Krisengebieten. Dort geht es um etwas anderes. Um so simple Dinge wie Zuhören. Miteinanderreden. Haltgeben. Und manchmal auch Beten.