In zentralen Lagen breiten sich die Ketten mit immer mehr Filialen aus. Wohngebiete spielen für diese Bäckereien nicht die Hauptrolle.

Hamburg. Die Ecke Grindelallee/Rentzelstraße, morgens um neun: In der Nur-Hier-Bäckerei drängeln sich die Kunden, wie immer um diese Zeit. Ein paar Meter weiter die Grindelallee nordwärts lockt ein Hansebäcker Junge, ein weiterer Nur Hier sowie eine BackWerk-Filiale. Richtung Uni geht es weiter: eine Springer-Biobäckerei, Backwaren von Dat Backhus sowie diverse Snackshops mit belegten Brötchen, Bagels und Baguettes im Angebot.

Die Ladendichte zählt zu den höchsten in der Stadt, und doch gibt es in vielen Stadtvierteln inzwischen Ecken, an denen sich die Bäckerei-Ketten zu stapeln scheinen - am Winterhuder Marktplatz, an der Osterstraße, am Eppendorfer Baum, am S-Bahnhof Barmbek, rund um den Bahnhof Altona. Obwohl die Zahl der produzierenden Bäcker in Hamburg sinkt - aktuell sind nur noch 89 Betriebe eingetragen, vor 30 Jahren waren es noch 125 -, steigt die Anzahl der Verkaufsstellen.

Hintergrund ist der tief greifende Wandel eines alten Handwerks. Während vor Jahrzehnten noch in aller Regel zu Hause gefrühstückt wurde, ändert sich mit der Abkehr traditioneller Familienstrukturen auch die Frühstückskultur rapide - gerade in Hamburg, wo etwa die Hälfte aller Wohnungen Single-Haushalte sind. "Die Einsamkeit am morgendlichen Frühstückstisch treibt die Menschen nach draußen", sagt der Trendforscher Peter Wippermann. Immer mehr Menschen verlassen das Haus mit leerem Magen und nehmen auf dem Weg ins Büro einen schnellen Snack. Im Branchenjargon sind das "Mobile Eater".

+++ Schwarzbrot, bitte +++

+++ Einmal Kamps und zurück +++

+++ Bäckerei Kamps wird in Hamburg zu Nur Hier +++

+++ Der rastlose Bäcker von Harburg +++

Die neuen Gewohnheiten bringen neue Anforderungen an zeitgemäße Bäcker mit sich. Vor allem schnell muss es gehen und "möglichst ohne Umweg", wie der Geschäftsführer der Bäcker-Innung Nord, Heinz Essel, betont. Seine Mitgliedsbetriebe haben sich längst darauf eingestellt und holen die Kunden dort ab, wo sie sich aufhalten. "Laufkundschaft ist das Kriterium für einen guten Standort", sagt auch Gürol Gür, Chef der Schanzenbäckerei, eine der aufstrebenden Ketten.

Die Folge ist ein heftiger Wettbewerb um die besten Lagen. "Die großen Bäckereien müssen flächendeckend präsent sein. Wohngebiete spielen dabei eine immer geringere Rolle", sagt Essel. Jeder drängt - dem Unterwegsesser sei Dank - hierhin: Bahnhöfe, Einkaufsmeilen und Verkehrsknotenpunkte. Zugleich wird der Konkurrenzkampf an diesen Orten immer größer.

Das musste auch der Düsseldorfer Großbäcker Kamps erfahren, als er Ende 2010 seine fast 100 Hamburger Filialen an die Konkurrenz verkaufte. Die neuen Eigentümer Nur Hier und von Allwörden wurden mit über 150 Filialen zum Branchenprimus. "Über 380.000 Brötchen haben wir allein im Dezember verkauft", sagt deren Verkaufsleiter Thilo Kanz. Auch groß im Geschäft ist Dat Backhus mit 115 Läden in und um Hamburg sowie Hansebäcker Junge mit 39 Läden. Aber nicht zuletzt mittelgroße Ketten wie Bäckerei Allaf befeuern die Konkurrenz, darunter einige Bio-Bäcker wie Effenberger oder Springer.

Für Anwohner bringt die große Auswahl vor Ort nicht unbedingt nur Vorteile mit sich. Bezirksämter sind bereits in Sorge: "Die Ballung von Bäckereien an einem Ort ist keine von uns begrüßte Entwicklung", sagt der Wirtschaftsförderer Karsten Hinckeldeyn vom Bezirksamt Nord. Das Problem: Durch die Ketten steigen die Mieten, der "Branchenmix" ist in Gefahr. Was bringt dem Kunden die Auswahl zwischen fünf Bäckereien, wenn er einen Schlachter sucht? Immer mehr Bürger ärgern sich darüber, bestätigt auch Hinckeldeyn, bei dem die Beschwerdeanrufe zunehmen. Regulierungsmöglichkeiten hat die Stadt jedoch nicht.

Aus der Vielzahl an Anbietern den "besten Bäcker" für sich zu finden fällt oftmals schwer. Mit "Frische" werben sie fast alle, das Brot im Verkaufsregal präsentiert sich perfekt ausgeleuchtet, die Ladenausstattung ist oft urig-rustikal und im Stil traditionsreicher Landbäckereien gehalten. Dabei ist der Eindruck urtümlicher Produktionsweise meist nur Fassade.

"Die meisten Betriebe backen heute nicht mehr dort, wo die Ware verkauft wird", sagt Innungs-Chef Heinz Essel. Der Hauptunterschied zwischen den expandierenden Ketten und klassischen Bäckereien sei, dass bei Ketten "in einer Zentrale produziert wird und die Verkaufsstationen von dort aus beliefert werden". So kann kostengünstiger produziert werden. In den kleinen Ladenlokalen wird dann lediglich die Ware angeboten. Die Großkette von Allwörden etwa lässt ihre Rundstücke in Mölln, Groß Grönau und Rellingen herstellen. Zahllose Lkw fahren dann frühmorgens kreuz und quer durch die Stadt und versorgen die Stationen mit frischer Ware. Die Qualität wird durch solcherlei Rationalisierung nicht unbedingt beeinträchtigt. "Viele dieser Großbetriebe backen immer noch nach eigenen Traditionsrezepten, nur eben massenhaft", sagt Heinz Essel.

Für das boomende Segment der Selbstbedienungsläden gilt das Frischegebot hingegen nur bedingt. Die Ware, die hier hinter den Plexiglasplatten liegt, stammt meist nicht aus eigener Produktion. "Wir kaufen unsere tiefgekühlten Teiglinge von Großbäckereien", sagt Knut Pauli, Sprecher von BackWerk, einer der größten SB-Ketten. In diesen Industriebäckereien wird gleich im großen Stil hergestellt und teilweise nach ganz Europa geliefert. "Im Laden wird die Ware dann erst fertig aufgebacken", sagt Pauli. Wenig Personal und große Abnahmemengen, das sind die Rezepturen für ihre Niedrigpreisstrategie, die in der Branche für große Unruhe sorgt.

Denn nicht zuletzt die kleinen, privat geführten Bäckereien leiden unter dem Branchentrend seit Jahren, ihre Zahl sinkt kontinuierlich. In der Bäckerei Wulf im Eppendorfer Weg etwa wird schon seit über 100 Jahren nach alten Rezepturen gebacken. Heinrich Wulf-Raczka führt den Familienbetrieb in vierter Generation. "Wir haben allerlei Wandel miterlebt", sagt der 48-Jährige, "und sind uns treu dabei geblieben." Jeden Morgen ab halb drei steht er dafür in der kleinen Backstube. Moderne Bäckereiverkäufer bei Nur Hier & Co. dagegen müssen erst Stunden später vor Ort sein, um die Lkw-Ladungen aus der Zentralbäckerei in Empfang zu nehmen. Den Lebensgewohnheiten der Verkaufsangestellten kommt das natürlich entgegen.

"Wir leben hier von unserer Stammkundschaft", sagt Wulf-Raczka. Dem Expansionsdrang der Konkurrenz sowie dem Kampf um die besten Lagen habe sein Betrieb wenig entgegenzusetzen. Die Entwicklung in der Branche sieht er pessimistisch: "Mittlerweile wird von vielen, besonders den Selbstbedienungsketten, nur vorgegaukelt, dass es sich um echtes Handwerk handelt." In Wirklichkeit seien die dort gefertigten Backwaren doch eher etwas anderes: ein ganz gewöhnliches Industrieprodukt.