Die Suche nach dem geheimnisvollen “Mann mit dem Hammer“ - Beobachtungen an der Strecke zwischen Kilometer 30 und 35

Irgendwo hier muss er sich versteckt haben. Männlich, mit einem schlagkräftigen Werkzeug unterwegs und auf jeden Fall unerwünscht: der Mann mit dem Hammer. Gesehen hat ihn noch keiner, hinterher von ihm erzählt haben schon sehr viele.

Rathenaustraße, Hausnummer 186. Kilometer 30 steht hier auf dem Schild. Eine Zahl, die bei den Vorbeilaufenden sichtlich eher Angst und Schrecken als Ansporn und Erleichterung auslöst. Weil er dahinter irgendwo lauern könnte. Die Gegend ist ja auch nicht ohne. Ein paar Hundert Meter weiter, in einer verwinkelten Villa im Maienweg und in Sichtweite zur stacheldrahtumzäunten Strafanstalt Fuhlsbüttel, hat einmal ein RAF-Terrorist gewohnt. Und später, zusammen mit ihrem Mann, eine Anwältin, die zu zweifelhafter Berühmtheit gelangte, weil sie sehr nahe am St.-Pauli-Killer Werner "Mucki" Pinzner dran war. Der skrupellose Auftragskiller hatte in ihrer Anwesenheit am 29. Juli 1986 im Polizeipräsidium am Berliner Tor erst den Staatsanwalt, dann seine Frau und schließlich sich selbst erschossen. Aber das ist eine andere Geschichte. Und sie ist lange her.

Obwohl: Auch der erste Marathonläufer war sofort tot. 490 vor Christus, als die Griechen die Perser besiegten. Und als, der Legende nach, ein Bote die 42 Kilometer von Marathon nach Athen hechelte, um die frohe Kunde von dem gewonnenen Gemetzel zu überbringen. Wie es um den jungen Griechen damals bei Kilometer 30 bestellt war, ist nicht überliefert. Jedenfalls bekam er im Ziel nur noch einen Satz raus, bevor er starb: "Freut euch, wir haben gesiegt."

So weit sind sie hier aber noch lange nicht. Und wie Sieger sehen sie im Moment auch nicht wirklich aus. Heiko Schäfer zum Beispiel. Der 41-Jährige hat ein HSV-Trikot an und liegt ermattet auf einer Massageliege. "Hoffentlich machen es die Jungs von Bruno Labbadia nachher besser als ich", sagt er und grinst etwas gequält.

Als hätte er geahnt, dass seine Leistung drei Stunden später von den HSV-Profis noch um ein Vielfaches unterboten werden würde.

Es ist Heikos zweiter Marathon. Letztes Jahr wollte er "nur ankommen", diesmal hat er sich eine Zeit von "4:30" zum Ziel gesetzt. Und? Hat ihm der Mann mit dem Hammer einen Strich durch die Rechnung gemacht? "Ich hab ihn gesehen", sagt Heiko. Wie er aussah? "Tut mir leid, ich kann mich nicht mehr erinnern."

Garry Palmer weiß es genauer. Der Sportwissenschaftler hat schon rund 20 Marathonläufe hinter sich. Einmal hat er in Hamburg auch den "Hasen" für eine deutsche Spitzenathletin gemacht und ist die ersten 20 Kilometer "in einer Stunde und 26 Minuten" angelaufen. Viel zu schnell für seinen damaligen Leistungsstand. "Bei Kilometer 35 kam der Mann mit dem Hammer, der sich zuvor durch Schmerzen in den Armen schon angekündigt hatte - und dann bin ich gestorben", sagt der 49-jährige gebürtige Brite. Es gebe diverse Ursachen für den plötzlichen Auftritt des ungeliebten Begleiters, erklärt der Leistungsdiagnostiker, aber der Hauptgrund seien immer eine "unangebrachte Vorbereitung" und ein "zu schnelles Anfangstempo". Dann komme es nämlich irgendwann dazu, dass das Gleichgewicht von Energieverbrauch und Sauerstoffaufnahme nicht mehr gegeben ist. In der Folge bilden die mit Energie unterversorgten Muskeln mehr Laktat, als sie abbauen können, was dann zu einer Übersäuerung der Muskulatur führt. Und wenn, eben meist bei Kilometer 30, die gespeicherten Kohlenhydrate endgültig aufgebraucht sind, holt sich der Körper die benötigte Energie nur noch über die Verbrennung von gespeicherten Fettzellen - eine Verbrennung, die zum Nachteil der Athleten wesentlich mehr Sauerstoff verlangt.

"Wenn ein Auto zehn Jahre in der Garage gestanden hat und dann auf der Autobahn sofort volle Pulle gefahren wird, dann wird es auch kaputt gehen", sagt Garry. Die richtige Vorbereitung sei eben alles. Oder anders: "Der Marathon an sich ist nicht gesund, aber es gibt nichts Besseres als das Training für einen 42-Kilometer-Lauf."

Dass ein Marathonlauf an sich nicht sehr gesund sein kann, erschließt sich dem Betrachter spätestens bei Kilometer 32. Wobei von einem Lauf hier im Maienweg eigentlich auch nicht mehr die Rede sein kann. Während 2000 Meter zuvor nur etwa jeder 20. Marathoni zum "Auslaufmodell" mutiert ist, verwandelt sich nun jeder zweite Starter in einen müde dreinblickenden Spaziergänger.

Eben noch war laute Party am U-Bahnhof Ohlsdorf mit Sekt und Samba-Rhythmen, jetzt ist der Spaß schlagartig vorbei. Tristesse, Erschöpfung, Verzweiflung. Einer stolpert, einer stürzt, andere hocken wie von Sinnen am Straßenrand. Dichtes Gedränge an der Wasserstelle, direkt gegenüber grüßt die schmucke Residenz Pflegen & Wohnen am Alsterberg. Und viele sehen so aus, als würden sie jetzt am liebsten sofort dort einkehren, anstatt noch genau zehn Kilometer weiterzulaufen.

Weshalb sich so mancher auch erst einmal auf die bereitgestellten Massageliegen begibt. Neun weibliche "Physios" haben im Wortsinn alle Hände voll zu tun. Dass sie ihr "Handwerk" verstehen, bekommen sie von den verkrampften, meist männlichen Patienten sofort mitgeteilt.

"Wunderbar, das fühlt sich an wie im Himmel", flötet Kai aus Kiel.

"Hallo, das sind hier aber nur medizinische Massagen", stellt Maren klar.

"Ich dachte, in Hamburg wäre das anders", kontert Kai.

"Da bist du aber in der falschen Straße", sagt sie, grinst, knetet weiter und wünscht dem Wiederbelebten noch viel Erfolg.

Der taumelt artig davon, und es sieht ein bisschen so aus, als hätte man Fred Astaire in Gummistiefel gesteckt.

Würde man ja auch nicht tun, oder? Warum aber tun die sich das alle an? Wieso "gehen" sie über diese Distanz? Vielleicht, um Dinge zu erleben, die für all das Leiden entschädigen. So wie Kjell aus Dänemark, der ein schnelles Tänzchen wagt mit einer jungen Schönen am Straßenrand, während ihre Freundin dazu auf der Geige "Auf der Reeperbahn nachts um halb eins" spielt.

Vorbei an einer selbst gebauten Holztribüne vor dem Haus Nr. 86 an der Tarpenbekstraße, die so aussieht, als hätte Mike Krüger höchstpersönlich Hand angelegt. Zwei Dutzend gut gelaunte Tribünenbesucher feuern die Trottenden mit La-Ola-Wellen an. Über ihr selbst gebasteltes Sitzmöbel haben sie ein riesiges Spruchband gehängt: "Vorsicht, Schlaglöcher, bitte im Schritttempo laufen!"

Das zaubert so manchem dann doch wieder ein Lächeln ins zerfledderte Gesicht. Überhaupt scheint es so, dass die, die jetzt noch in Richtung Ziel unterwegs sind - den Fernsehturm im Blick, das kleine Geschäft für Tierbestattung rechter Hand trotzig hinter sich lassend - nur noch ihrem Kopf gehorchen. Die Beine sind längst auf Autopilot gestellt.

Vielleicht ist aber auch eine gewisse Erleichterung spürbar. Dass sie ihm noch mal entkommen sind. Dem Mann mit dem Hammer.