Warschau/Nusa Dua. Im polnischen Grenzgebiet zur Ukraine sind bei einem Raketeneinschlag zwei Menschen ums Leben gekommen. Nach Angaben des polnischen Präsidenten Andrzej Duda und der Nato handelte es sich nicht um einen gezielten russischen Angriff. Es gebe keine Beweise dafür, dass die Rakete von Russland abgefeuert worden sei, sagte Duda am Mittwoch in Warschau. Es handele sich vielmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine ukrainische Flugabwehrrakete. Moskau hatte zuvor bestritten, Ziele im ukrainisch-polnischen Grenzgebiet beschossen zu haben, und von einer gezielten Provokation gesprochen.
Nato und Polen sehen keine Hinweise auf russischen Angriff
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte in Brüssel, es gebe keine Hinweise darauf, dass der Raketeneinschlag ein vorsätzlicher Angriff gewesen sei. Nach vorläufigen Analysen sei der Vorfall wahrscheinlich durch eine ukrainische Flugabwehrrakete verursacht worden, die gegen russische Angriffe mit Marschflugkörpern eingesetzt worden sei. Es gebe keine Hinweise, dass Russland offensive militärische Aktionen gegen die Nato vorbereite.
Duda betonte: "Nichts, absolut nichts, deutet darauf hin, dass es sich um einen absichtlichen Angriff auf Polen handelte." Er ergänzte: "Was passiert ist, nämlich dass eine Rakete auf unser Territorium fiel, war keine vorsätzliche Handlung. Es war keine gezielte Rakete, die auf Polen gerichtet war."
Einschlag in Polen: Krisentreffen der G7-Staaten
US-Präsident Joe Biden hatte nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur bereits bei einem Krisentreffen mit Staats- und Regierungschefs von Nato- und G7-Staaten am Rande des G20-Gipfels auf Bali am Vormittag mitgeteilt, es gebe Hinweise darauf, dass es sich bei dem Geschoss um eine Flugabwehrrakete des Systems S-300 aus der Ukraine handele. Zuvor hatte Biden Polen die Unterstützung der westlichen Verbündeten bei den Ermittlungen zugesagt. Polen ist Mitglied der EU und der Nato.
Die beim Gipfel versammelten G7-Staaten hatten sich nach dem Raketeneinschlag in Polen kurzfristig zu Beratungen getroffen, an denen auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel teilnahmen. Von mehreren Seiten hieß es nach dem Treffen, Moskau trage mit seinem Beschuss der Ukraine die Verantwortung für den Vorfall in Polen. Dies gelte selbst dann, wenn es sich um eine ukrainische Abwehrrakete gehandelt haben sollte.
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Außerdem wurde eine Erklärung veröffentlicht: Man habe mit Polen vereinbart, "in engem Kontakt zu bleiben, um im Verlauf der Ermittlungen geeignete nächste Schritte festzulegen". Zu den jüngsten russischen Angriffen auf die Ukraine heißt es in der Erklärung: "Wir verurteilen die barbarischen Raketenangriffe, die Russland am Dienstag auf ukrainische Städte und zivile Infrastrukturen verübt hat."
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock bekräftigte am Mittwochnachmittag, der Westen sehe bei Russland eine Verantwortung für den tödlichen Raketeneinschlag in Polen. "Diese Menschen wären nicht ums Leben gekommen, würde es diesen brutalen russischen Angriffskrieg nicht geben", sagte Baerbock am Mittwoch nach Ankunft bei der Weltklimakonferenz in Ägypten.
Raketeneinschlag: So reagiert Polens Regierung
Polens Regierung kam war noch am Dienstagabend zu einer außerplanmäßigen Sitzung zusammengekommen. Nach der Sitzung wurden Teile der polnischen Streitkräfte in erhöhte Bereitschaft versetzt. Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki rief seine Landsleute am Mittwochmorgen dennoch zur Ruhe auf: "Wir müssen Zurückhaltung und Umsicht walten lassen", sagte Morawiecki nach einer Krisensitzung seines Kabinetts in Warschau.
Das polnische Außenministerium hatte zuvor erklärt, der russische Botschafter in Warschau sei einbestellt worden, um "sofort detaillierte Erklärungen" für den Vorfall zu liefern. Zu dieser Stunde war noch unklar, ob es sich bei der eingeschlagenen Rakete um eine russische gehandelt haben könnte.
"Provokation": Russland weist Verantwortung für Raketen von sich
Die russische Regierung bestritt, Ziele im ukrainisch-polnischen Grenzgebiet beschossen zu haben und sprach von einer gezielten Provokation. Das sagte unter anderem das russische Verteidigungsministerium kurz nach Bekanntwerden des Vorfalls.
Auch der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew verbreitete diese Einschätzung und warnte vor einem Dritten Weltkrieg: "Der Westen erhöht durch seinen hybriden Krieg gegen Russland die Wahrscheinlichkeit für den Beginn des Dritten Weltkriegs", schrieb der 57-Jährige am Mittwoch auf Twitter.
Dmitri Poljanski, stellvertretender Leiter der russischen UN-Delegation, wies eine Schuld Moskaus ebenfalls zurück. Er verwies in dem Zusammenhang darauf, dass westliche Staaten schon in der vergangenen Woche eine Sitzung des UN-Sicherheitsrats einberufen hätten – damals noch ohne Themenangabe. "Und nun plötzlich unmittelbar am Vorabend ein 'Raketenangriff' auf Polen", das sei sehr verdächtig, übte sich der russische Diplomat in Verschwörungstheorien.
Raketen in Polen: Ukraine dringt auf Flugverbotszone
Der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj hatte am Abend Russland beschuldigt, Raketen auf den Nato-Staat Polen abgefeuert und damit eine "sehr erhebliche Eskalation" herbeigeführt zu haben. "Heute haben russische Raketen Polen getroffen, das Territorium eines verbündeten Landes. Menschen starben. Bitte nehmen Sie unsere Beileidsbekundung an", sagte Selenskyj in seiner Videoansprache.
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba hat eine harte und "prinzipienfeste" Reaktion gefordert. Das habe er bei einem Telefonat mit US-Außenminister Antony Blinken deutlich gemacht, teilte Kuleba im Kurznachrichtendienst Twitter mit. Demnach verurteilte er "Russlands Raketenterror". Russland beschießt das Nachbarland in dem mehr als acht Monate dauernden Krieg inzwischen jeden Tag mit Raketen.
Die Ukraine dringt nun auf die Einrichtung einer Flugverbotszone. "Wir bitten darum, den Himmel zu schließen, weil der Himmel keine Grenzen hat", schrieb Verteidigungsminister Olexij Resnikow bei Twitter. Dies sei erforderlich, um unkontrollierte Raketen abzuschießen und auch die EU- und Nato-Staaten zu schützen.
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Die Ukraine hat schon mehrfach eine solche Flugverbotszone verlangt. Die Bundesregierung etwa lehnt Entscheidungen ab, die zu einem direkten Konflikt zwischen der Nato und Russland führen könnten. Eine Flugverbotszone müsste mit Kampfjets durchgesetzt werden. Das würde einen Kriegseintritt der Nato bedeuten, hatte Bundeskanzler Olaf Scholz schon im Frühjahr gewarnt.
Deutschland zu Polen: Olaf Scholz für "sorgfältige Aufklärung"
Scholz sprach sich für intensive Untersuchungen des Raketeneinschlags in Polen aus. "Es ist jetzt notwendig, dass sorgfältig aufgeklärt wird, wie es dazu gekommen ist, dass diese Zerstörung dort angerichtet werden konnte", sagte er nach der Krisensitzung beim G20-Gipfel.
Scholz verurteilte zudem die neusten russischen Angriffe auf die Ukraine scharf. "Wir stellen fest, dass Elektrizitätswerke zerstört werden, dass Umspannleitungen getroffen werden, dass Wasserversorgung zerstört wird. Das ist keine akzeptable Form der Kriegsführung in diesem ohnehin ungerechtfertigten Krieg", betonte Scholz, der auch schon mit dem polnischen Präsidenten telefoniert und ihm sein Beileid ausgesprochen hat.
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Deutschland bietet ab Donnerstag Hilfe bei Luftraumüberwachung an
Dennoch bietet Deutschland Polen nach dem Einschlag als "Sofortreaktion" Unterstützung bei der Luftraumüberwachung an. "Dies kann bereits morgen erfolgen, wenn Polen das wünscht", sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums am Mittwoch in Berlin in der Bundespressekonferenz. Es gehe um eine Verstärkung des so genannten Air Policing mit Eurofighter-Flugzeugen der Luftwaffe.
"Die Jets müssen dafür nicht nach Polen verlegt werden. Die Patrouillen können von deutschen Luftwaffenbasen aus erfolgen", sagte der Ministeriumssprecher. Die Luftwaffe habe dies im laufenden Jahr bereits bis Juli gemacht. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) werde dazu noch am Mittwoch das Gespräch mit ihrem polnischen Amtskollegen suchen.
Um wie viele deutsche Eurofighter es geht, steht dem Sprecher zufolge noch nicht fest. Das müsse mit der polnischen Seite besprochen werden. Eine Patrouille werde immer von zwei Maschinen in bestimmten festgelegten Lufträumen geflogen, sagte der Sprecher.
Artikel 4: So reagiert die Nato auf den Einschlag in Polen
Ein Sprecher der polnischen Regierung erklärte kurz nach dem Einschlag, man habe mit den Nato-Verbündeten beschlossen, zu überprüfen, ob es Gründe gebe, die Verfahren nach Artikel 4 des Nato-Vertrags einzuleiten. Artikel 4 sieht Beratungen der Nato-Staaten vor, wenn ein Land die Unversehrtheit seines Gebiets, seine politische Unabhängigkeit oder die eigene Sicherheit bedroht sieht.
Käme die Nato zu dem Schluss, dass es sich tatsächlich um einen russischen Angriff auf ein Nato-Mitglied handelte, dann würde die Allianz einen Bündnisfall nach Artikel 5 des Nato-Vertrags ausrufen: Ein bewaffneter Angriff gegen ein Nato-Mitglied wird demnach als Angriff gegen alle angesehen. Die Nato-Partner müssten dann Beistand leisten.
Allerdings entscheidet jedes Land selbst, auf welche Weise es Beistand leistet und die Maßnahmen trifft, die es für erforderlich hält – weder Deutschland noch andere Nato-Länder müssten zwingend mit ihren Streitkräften zur Hilfe kommen. In Brüssel galt es am Abend zunächst als sehr unwahrscheinlich, dass es überhaupt zu diesem Fall kommt.
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Raketen in Polen: Kreml-Unterstützer China will abwarten
China hat nach dem Raketeneinschlag in Polen alle Seiten zur Zurückhaltung aufgerufen. "In der aktuellen Situation müssen alle Seiten Ruhe bewahren und Zurückhaltung üben, um eine Eskalation zu vermeiden", sagte ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums am Mittwoch. Chinas Position zur Situation in der Ukraine sei unverändert: "Dialog und Verhandlungen haben Priorität, um die Krise auf friedliche Weise zu lösen", sagte der Sprecher.
Nur wenige Stunden vor Bekanntwerden des Raketeneinschlags in Polen war Russland in der G20-Runde unter Druck geraten. Beim Gipfel verzichteten bisherige Unterstützer wie China und Indien darauf, eine gemeinsame Abschlusserklärung zu blockieren. In dem am Dienstag praktisch fertig ausgehandelten Papier heißt es: "Die meisten Mitglieder verurteilten den Krieg in der Ukraine aufs Schärfste."
Konkret wird in dem Papier aus einer Resolution der UN zitiert, in der Russland aufgefordert wird, die Kriegshandlungen einzustellen und seine Truppen aus der Ukraine sofort abzuziehen. Einen Erfolg bei den Verhandlungen konnten die westlichen Industrienationen auch beim Thema Atomwaffen verbuchen. Nach Angaben von Diplomaten stimmte Russland zu, dass nicht nur der Einsatz von Atomwaffen, sondern auch die Drohung damit als unzulässig bezeichnet wird. (mit reba/pcl/dpa)
Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.
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