Vor 100 Jahren erschien das berühmte Schulkochbuch der Lebensmittelfirma zum ersten Mal. Es wurde zum Klassiker.

Bielefeld/Hamburg. Der menschliche Körper gleicht einem Motor", erfuhren die Leserinnen aus dem Dr. Oetker Schulkochbuch 1927. "Er erzeugt Energie - Bewegung, Arbeit usw. - und wird dauernd abgenutzt. Er benötigt infolgedessen laufend Heiz- und Aufbaustoffe, die ihm durch eine richtig zusammengesetzte Nahrung zugeführt werden müssen." Die kochende Hausfrau war also quasi die Mechanikerin, die den Motor von Mann und Kindern am Laufen halten musste. Das Kochbuch sagte ihr, wie.

Und das schon seit 100 Jahren: 1911 erschien das erste Dr. Oetker Schulkochbuch, damals 90 Seiten stark, zum Preis von 20 Pfennig. Geschrieben hatte es eine Bielefelder Haushaltslehrerin, die ihre Erfahrungen aus der Kochschule einbrachte. Schon damals wurden die Rezepte in der Firmen-Versuchsküche entwickelt und getestet. Seither ist das Schulkochbuch immer wieder neu aufgelegt und bis heute 19 Millionen Mal verkauft worden - ein Rekord. Über die Zeiten spiegelt es ein Jahrhundert Esskultur, genauer gesagt: jenes Jahrhundert, in dem sich Nahrungsmittel, Kochgeräte und Küche so stark verändert haben wie nie zuvor - vom Kompott zur Tiefkühlkost, von der Kochkiste zur Mikrowelle, von der Wohnküche zur offenen Kochinsel im Wohnbereich.

Dass die Nachfrage nach Kochbüchern während des Kaiserreichs zunahm, war eine Folge der Landflucht. Allein in Hamburg wuchs die Einwohnerzahl zwischen 1850 und 1910 von 200 000 auf mehr als eine Million. Für Mädchen waren Privathaushalte der größte Arbeitsmarkt: Zigtausende wanderten in die Städte ab, um "in Stellung" zu gehen, und immer weniger von ihnen lernten das Kochen bei Muttern. Wie nimmt man ein Huhn aus? Woran sieht man, ob der Fisch frisch ist? Wie weckt man Obst ein? Da waren gute Ratgeber Gold wert.

Der Bielefelder Firmengründer August Oetker hatte sich den damaligen Hausfrauen, Köchinnen und Dienstmädchen schon mit nützlichen Erfindungen empfohlen. 1894 brachte er Puddingpulver in verschiedenen Geschmackssorten in 10-Pfennig-Tütchen auf den Markt; es folgten Dr. Oetker Vanillinpulver, "Einmach-Hülfe" und 1898 das Gustin zum Andicken von Soßen und Suppen. Die kamen dann natürlich auch bei den Rezepten zum Einsatz. Das Schulkochbuch vermittelte die Grundlagen - Mehlschwitze etwa - bis hin zu anspruchsvollen Gerichten wie Karpfen blau oder Aal in Aspik. In der ersten Auflage stand neben den Zutaten noch ihr Einkaufspreis ("4 EL Kartoffelmehl, 2 Eier - 15 Pfg."), und für Sparsame wurde ein wöchentlicher Küchenzettel schon ab 4,55 Mark berechnet. Von Inflation und Börsenkrach ahnte 1911 noch niemand etwas.

Allerdings wurde den Frauen größte Ernsthaftigkeit angeraten: "Wenn die Hausfrau die Gerichte nicht richtig zusammenstellt, ist die Gesundheit der Familie ernstlich gefährdet", hieß es da. Sie sollte vor allem auf genügend Fett achten: "Der Mann, welcher mit zu magerer Kost ernährt wird, greift fast stets zum Branntwein, um sich zu erwärmen, besonders dann, wenn er außerdem noch einen unordentlichen, ungemütlichen Haushalt vorfindet."

Zum festen Prinzip unserer Groß- und Urgroßmütter wurde in vielen Mangelzeiten die Resteverwertung. Im Dr. Oetker Schulkochbuch konnten sie alle Verfahren zur Haltbarmachung von Lebensmitteln nachlesen: Wie macht man Kompott, wie weckt man Gemüse ein, wie macht man Wurst und Gänseklein?

Im Zuge der Elektrifizierung der Haushalte - ab den 1920er-Jahren - rief der Erfolg des Dr. Oetker Schulkochbuchs die deutschen Energieversorger auf den Plan, die ab 1936 ein ähnliches Werk herausbrachten: "Das elektrische Kochen", von der Berliner Kraft- und Licht (Bewag) AG herausgegeben, erlebte bisher 53 Auflagen und fand fast vier Millionen Käufer/innen. In Hamburg wurde dieses "blaue Kochbuch" von den HEW (heute von Vattenfall) vertrieben. Dabei ging es auch darum, Hausfrauen an die modernen Küchen-Elektrogeräte heranzuführen. Nach dem Krieg stiegen die Ansprüche an gutes Essen enorm an. Junge Hausfrauen wollten auch mal etwas anderes als Königsberger Klopse oder Schmorgurke ausprobieren. Der Fernsehkoch Clemens Wilmenrod, ab Februar 1953 auf Sendung, verblüffte mit "Arabischem Reiterfleisch" oder "Torero-Frühstück".

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In den 60ern beginnt der Siegeszug der Moderne: mit Tiefkühltruhen, der ersten Tiefkühlpizza, mit Fischstäbchen, Einbauküchen und Edelstahlspülen. Statt einzuwecken, wird jetzt eingefroren. Allerdings sind die Deutschen bei der Küchentechnik zögerlicher als andere Nationen. Nach der Studie "Ernährungswende" des Instituts für sozial-ökologische Forschung in Frankfurt hatten 1980 erst 77 Prozent der deutschen Haushalte einen Elektroherd (2000: 83 Prozent) und 21 Prozent einen Geschirrspüler (53 Prozent), aber immerhin 72 Prozent eine Kaffeemaschine (95 Prozent).

Für die Zubereitung der Mahlzeiten und das Einkaufen sind laut Umfragen zu 91 Prozent auch heute immer noch Frauen zuständig. Die Ausnahme ist Grillen - das ist bundesweit Männersache. Aber der tägliche Zeitaufwand für das Kochen ist in den vergangenen 50 Jahren deutlich gesunken, nämlich von einer Stunde auf 30 Minuten, so die Studie "Ernährungswende". Überhaupt wird fast nur noch in einem Drittel aller Haushalte täglich gekocht, meistens für die Kinder. Das gemeinsame Familienessen ist längst zum besonderen Anlass, zur Ausnahme geworden. Gerade die unter 40-Jährigen nehmen warmes Essen überwiegend in Kantinen und Snackbars zu sich. Das Kochen ist heute keine tägliche Versorgungsleistung mehr, sondern wird zum Hobby mit Spaßfaktor.

"Die Leute wollen Brot und Spiele. Kochen soll auch unterhaltsam sein", sagt Marco Dartsch von "Erlebniskochen & Weinschmecken", einem Hamburger Kochkurs-Veranstalter. Den größten Zulauf hätten "Themen-Kurse", bei denen gemeinsam mit einem Spitzenkoch ein Menü zubereitet wird. In diesem Jahr beispielsweise waren Kurse für indisches Essen mit dem "Shalimar"-Chef Mike Washington in seiner Restaurantküche sofort ausgebucht. "Heute ist es durch die TV-Sendungen schon üblich, Profiköchen über die Schulter zu schauen. Und wir nehmen die Teilnehmer mit in Hamburger Profiküchen, zu denen man sonst keinen Zugang hat", sagt Dartsch. Dass die Teilnehmer "unterschiedliche Wissensstände" mitbringen, sei normal. "Es geht heute auch nicht mehr darum, sich sklavisch genau an ein Rezept zu halten. Die Profiköche ermuntern die Teilnehmer zur Kreativität." Thomas Krause von der "Hamburger Kochschule" sieht eine etwas andere Tendenz: "Unsere Teilnehmer wollen nicht mehr nur Infos über die Crossover- oder die Eventküche bekommen, es muss nicht etwas Ausgefallenes wie 'Steinbutt an Lakritzsauce' sein. Sie möchten auch wieder wissen, wie die gute Heimatküche funktioniert, zum Beispiel Rouladen, Roastbeef oder die Gans zu Weihnachten. Sie stellen viele Basisfragen: Wie brät man an, wie blanchiert man richtig, wie kann man Gemüse mal anders anrichten als sonst? Und vor allem: Wie bekommt man alles gleichzeitig fertig?"

Ernährung entwickelt sich bei uns offenbar in einer sozialen Schere: Den Menschen, die sich bevorzugt mit Discounterware, Fertiggerichten und Fastfood begnügen und relativ wenig über Lebensmittel wissen, stehen andere gegenüber, die auf hohe Lebensmittelqualität und besondere Zutaten achten, am Wochenende genüsslich selbst kochen wollen und für die Küchen-Hardware viel Geld bezahlen. Kochgenuss und Esskultur werden immer mehr zu Lifestyle-Faktoren der Gutverdiener.

Der ausgefallene Geschmack prägt auch den heutigen Kochbuchmarkt: Die Zahl der Spezialratgeber von "Muffins" über "Rote Currys" und "Schnelle Salate" bis zum "Kochbuch für eingefleischte Vegetarier" im Handel ist schier unüberschaubar geworden.

Diese Vielfalt spiegelt sich auch in der neuen Jubiläumsausgabe von Dr. Oetkers Schulkochbuch. Da steht zum Beispiel, wie man Pesto selbst macht. Oder wie man in 38 Minuten ein exotisches "Gemüse-Linsen-Curry mit Dip" zaubert. Da wirkt die gute alte "Putenoberkeule mit Gemüse" schon wie ein Traditionsgericht.

Dr. Oetker Schulkochbuch, Jubiläumsausgabe, 320 Seiten, 10 Euro "Iss doch wenigstens das Fleisch!" Liebevoll aufbereitete Sonderausgabe über "100 Jahre Ernährungskultur".