Thomas Straubhaar und Heiner Flassbeck: Zwei renommierte Ökonomen treffen im großen Abendblatt-Gespräch aufeinander.

Hamburg. Sie sind zumindest in ökonomischen Fragestellungen selten einer Meinung. Der eine, Heiner Flassbeck , eher ein linker Volkswirt, der sich vor allem für höhere Löhne in Deutschland einsetzt, damit die schwache Binnennachfrage angekurbelt wird. Der andere, Thomas Straubhaar , hat mehr die Kostenseite der Unternehmen im Blick, setzt stark auf technische Innovationen und Wohlstand durch exzellente Produkte "made in Germany". Das Abendblatt hatte die beiden renommierten Volkswirte bereits vor eineinhalb Jahren zum ersten kontroversen Gipfel geladen. Damals stand die Angst vor Inflation im Mittelpunkt des Streitgesprächs. Beim zweiten Aufeinandertreffen geht es um das richtige Rezept für einen längerfristigen Aufschwung.

Hamburger Abendblatt:

Herr Straubhaar , vor rund eineinhalb Jahren haben wir hier zusammengesessen und Sie haben für Deutschland eine mittelfristige Inflationsrate von fünf bis zehn Prozent vorausgesagt. Die Preise steigen aber zurzeit nur um magere 1,3 Prozent.

Thomas Straubhaar:

Da gibt es von meiner Seite nichts zu beschönigen: Das war eine Fehlprognose. Allerdings sehe ich auch heute noch erhebliche Risiken für eine höhere Inflation. Schauen Sie nur auf die ökonomischen Blasenbildungen in den USA oder die Preissteigerungen bei Rohstoffen, Gold und den zu schnellen Aufschwung am Aktienmarkt.

Also bekommen wir doch noch Preissteigerungen von fünf bis zehn Prozent?

Straubhaar:

So weit würde ich nicht mehr gehen. Denn ich habe den Eindruck gewonnen, dass die Europäische Zentralbank auch in Krisenzeiten sehr genau auf die Inflationsrate schaut.

Herr Flassbeck, Sie wiederum haben von Deflation gesprochen, die uns bis 2011 beschäftigen wird. Davon kann aber auch keine Rede sein.

Heiner Flassbeck:

Deflation ist durchaus ein Thema. Schauen Sie auf die aktuellen Inflationsraten. Der Zielwert der Europäischen Zentralbank ist bei etwa 1,9 Prozent. Da liegen wir in Deutschland deutlich darunter. Ich sehe weiterhin globale Deflationsgefahren. In diesem Zusammenhang ist die Lohnentwicklung das zentrale Problem. In Japan stagniert das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte seit 20 Jahren. In den USA verzeichnen wir erstmals seit 1950 sinkende verfügbare Einkommen. Und in Europa gehen die Einkommen tendenziell auch zurück.

Die ökonomischen Nachrichten werden immer positiver. Gehört die globale Wirtschaftskrise aus Ihrer Sicht bereits der Vergangenheit an?

Flassbeck:

Ich sehe noch keine fundamentale Wende, maximal eine Bodenbildung. Die Gefahr einer wirtschaftlichen Stagnation ist weiterhin groß. Dabei handelt es sich vor allem um ein Erwartungsproblem. Die Menschen müssen an eine Wende in ihrer Einkommensentwicklung glauben, das sehe ich noch nicht.

Straubhaar:

Die expansive Geldpolitik der Notenbanken überdeckt doch nur die tatsächlichen strukturellen Probleme vor allem in den USA. Es werden mit den kurzfristigen Konjunkturprogrammen zudem die gleichen Fehler wie vor zehn Jahren gemacht. Gerade Deutschland hat seiner Ökonomie strukturelle Impulse gegeben, statt nur auf wirtschaftliche Strohfeuer zu setzen. Noch sollten wir uns in Deutschland aber stärker auf Zukunftsbranchen wie Bio-, Nano- und Gesundheitstechnologie konzentrieren. Ohne dabei zu vergessen, dass Deutschland das Industrieland ist und bleiben soll.

Flassbeck:

Aus meiner Sicht müssen sich die Einkommenserwartungen bei den Beschäftigten in Deutschland in den positiven Bereich drehen, damit sie mehr konsumieren und wir nicht länger einseitig vom Export abhängen. Seit zehn Jahren stagniert der Konsum und fallen die Realeinkommen in Deutschland. Das funktioniert nicht länger. Nur wenn die Menschen mit Mut und der Zuversicht in die Zukunft gehen, dass ihre Jobs sicher sind und sie mit diesen Jobs auch mehr verdienen, kaufen sie auch wieder ein.

Straubhaar:

Die Stimmung in Deutschland ist deutlich besser, als Sie behaupten. Wir haben die höchste Beschäftigung aller Zeiten.

Flassbeck:

Da rechnen Sie etwas schön. Die hohe Erwerbstätigenquote kommt durch Minijobs und Ein-Euro-Kräfte zustande. Zudem profitiert die deutsche Wirtschaft einseitig von Exportüberschüssen. Das ist global betrachtet unhaltbar. Was wir als positiven Wachstumsbeitrag verzeichnen, ist woanders zwingend ein negativer Beitrag. Das werden sich diese Staaten nicht mehr lange gefallen lassen. Das Problem des Protektionismus sehen wir schon heute, und es wird sich verschärfen.

Straubhaar:

Dann müssen die anderen Länder eben besser werden und stark nachgefragte Produkte für den Export herstellen.

Flassbeck:

Das ist falsch. Nicht alle können ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Wettbewerbsfähigkeit ist ein relatives Konzept, nicht alle können tun, was ein Einzelner tut. Deutschland muss folglich sein Wachstum stärker über die Binnennachfrage ankurbeln.

Wie hoch sollten die Lohnsteigerungen in Deutschland 2011 im Schnitt über alle Branchen hinweg ausfallen?

Flassbeck:

Die Formel ist simpel: das Inflationsziel der EZB von 1,9 Prozent plus die gesamtwirtschaftliche Produktivität. Dann kämen wir auf drei Prozent Lohnsteigerung. 3,5 Prozent wären auch in Ordnung.

Straubhaar:

Ich bin froh, dass Sie sich damit der Meinung des Sachverständigenrates anschließen.

Flassbeck:

Die Formel hatte ich schon lange vor dem Sachverständigenrat formuliert.

Straubhaar:

Ich selber möchte mich auf keine konkrete Prozentzahl festlegen. Mir ist wichtig, dass die Tariferhöhungen nicht länger zentral, sondern dezentral in den Unternehmen verhandelt werden. Denn dort kennt man die betriebliche Produktivität am besten. Die Tarifparteien sollten nur noch die allgemeinen Spielregeln der betrieblichen Lohnfindung formulieren. Zudem bin ich gerade in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten ein Befürworter von Einmalzahlungen, weil diese nicht langfristig in die Lohntabellen eingehen.

Die Auftragsbücher in vielen Branchen füllen sich, der Export boomt, die Zahl der Arbeitslosen liegt unter drei Millionen. Ist die deutsche Wirtschaft ein weltweites Vorzeigemodell?

Straubhaar:

Ja, das denke ich. Gerade die Amerikaner beneiden uns um unsere Wirtschaftsstärke, die nicht zuletzt auf einer starken Industrie und einer intakten Sozialpartnerschaft beruht. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände arbeiten konstruktiv zusammen - trotz unterschiedlicher Auffassungen. Wir haben einen intakten Sozialstaat und sind Technologieführer in vielen Bereichen.

Flassbeck:

Wenn alles so gut läuft, wie Sie es beschreiben, dann müssen die Unternehmen ja nicht länger Lohndumping betreiben. Selbst in der Schweiz gibt es einen Mindestlohn, der bei 16 Franken liegt und nun auf 18 Franken erhöht wird. Bei uns muss der Steuerzahler den viel zu niedrigen Lohn, der zum Beispiel im Einzelhandel bezahlt wird, aufstocken. Das ist nicht die Politik basierend auf technologischer Überlegenheit, sondern Lohndumping.

Straubhaar:

Ich halte die Löhne, die vielerorts für einfache Tätigkeiten bezahlt werden, auch für menschenunwürdig. Allerdings glaube ich nicht, dass Mindestlöhne eine geeignete Lösung sind. Die Löhne müssen in den Betrieben ausgehandelt, nicht gesetzlich festgelegt werden.

Flassbeck:

Ein Mindestlohn der bei rund 13,50 Euro liegt, das wäre die Hälfte des derzeitigen durchschnittlichen Bruttostundenlohns, wäre überhaupt kein Problem.

Um Griechenland ist es ruhiger geworden. Der Euro hat sich zum Dollar stabilisiert. Gehört die Euro-Krise der Vergangenheit an?

Flassbeck:

Im Gegenteil. Die Wettbewerbsunterschiede der einzelnen Länder sind weiterhin so gravierend, dass die Euro-Zone das nicht aushalten wird. In Deutschland müssen die Löhne endlich stärker steigen und in anderen Ländern wie Spanien weniger. Sonst hat der Euro keine Überlebenschance. Machen die Mitgliedstaaten in der Lohnpolitik so weiter wie bisher, ist die Euro-Zone in drei bis fünf Jahren mausetot. Wir brauchen eine Lohnunion, was heißt, einheitliche Lohnregeln gemäß der obigen Formel für alle Euro-Länder. Sonst wird der Nationalismus in den einzelnen Staaten gefährlich geschürt. Wohin das führt, haben wir bereits bei den Protesten in Griechenland gesehen.

Straubhaar:

Europa braucht eine Transferunion, in der starke Länder den schwachen helfen. Das ist in den USA auch nicht anders. Den Einstieg in die Transferunion hatten wir ja bereits mit den Hilfen für Griechenland.

Flassbeck:

Eine Transferunion ist nicht zu bezahlen und politisch unmöglich.

Zum Schluss - wie bei unserem letzten Gespräch - eine kleine Wette um drei Flaschen Wein Ihrer Wahl. Vor eineinhalb Jahren hatten Sie Prognosen zur Inflation abgegeben. Diesmal geht es ums Wirtschaftswachstum. In welchem Land wird das Bruttoinlandsprodukt 2011 am stärksten steigen: in Frankreich, Deutschland oder England?

Flassbeck:

In Frankreich.

Straubhaar:

Ich setze beim Wachstum auf Deutschland.