Von außen lässt sich das Land nicht therapieren. Man sollte es wirtschaftlich vorerst abschreiben, meint Olaf Preuß.

Hamburg. Es ist immer hilfreich, das größere Bild zu sehen. Der renommierte US-Ökonom Kenneth Rogoff von der Harvard-Universität wies dieser Tage darauf hin, dass Griechenland seit seiner Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert "ungefähr die Hälfte der Zeit im Staatsbankrott" verbracht habe. Das neue Bild vom kranken Mann Europas ist also eigentlich ganz das alte.

Was soll die Europäische Union tun? Finanzielle Hilfen für das völlig überschuldete Land verbietet das Vertragswerk der Gemeinschaft, und politischer Druck erscheint zweifelhaft. Der Grieche, über Jahrhunderte abgehärtet im bewaffneten bäuerlichen Kleinkrieg gegen die türkische Kolonialmacht, ist stur und zäh. Das zeigte sich auch am vergangenen Donnerstag. Da demonstrierten Taxifahrer, Studenten und Staatsdiener in Athen nicht etwa für ein beherztes Eingreifen Europas oder für radikale Reformen der eigenen Regierung - sie demonstrierten gegen die Kürzung staatlicher Zuwendungen ebenso wie gegen die geplante Einführung von Fahrgastquittungen. Zahlungsbelege würden bedeuten, dass die Taxifahrer künftig korrekter als bislang (oder überhaupt erst) ihre Umsätze nachweisen - die sie dann auch noch versteuern müssten. Für viele Griechen ein vollkommen abwegiger Gedanke.

Die Haltung der Demonstranten zeugt von einem in Europa wohl einmaligen Maß an Realitätsverlust - oder aber exakt vom Gegenteil, von der Angst und der Gewissheit, dass es ohne großes Schneidwerkzeug im Staate Griechenland nicht mehr lange weitergehen wird. Sicher, die griechische Regierung könnte vor dem totalen Absturz den Internationalen Währungsfonds (IWF) zu Hilfe rufen, die härteste finanzpolitische Truppe der Welt, die bereits klinisch tote Staaten wie Thailand oder Argentinien wieder auf die Beine gebracht hat. Aber ob das auch für Hellas reicht? Der IWF verbindet seine finanziellen Hilfen mit rigorosen wirtschafts- und finanzpolitischen Auflagen, die dann auch befolgt werden müssen. Womit man wieder beim Kernproblem Griechenlands wäre.

Versprechen kann die griechische Regierung bei Gipfeltreffen der EU in Brüssel viel; wann sie wirtschaftspolitische Reformen umsetzt, steht in den Sternen. Ausschließen kann die Gemeinschaft keines ihrer Mitglieder.

Die Hälfte des griechischen Bruttoinlandsproduktes basiert auf Staatsausgaben. Das Ergebnis ist eine krankhafte Symbiose von Staat und Bürgern. Der Reflex, der sich in Jahrzehnten staatlicher Omnipräsenz verfestigt hat, besteht darin, noch mehr vom Staat zu fordern, keineswegs aber, zum Wohl dieses Staatwesens persönlich beizutragen.

Das gilt nicht nur für den Umgang der Griechen mit dem eigenen Staat, sondern auch mit der EU. Die Ausführungen des griechischen Schriftstellers Petros Markaris in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" belegen, welch abwegige Wahrnehmung von Geben und Nehmen sich in Griechenland verfestigt hat: "Die EU hat die Griechen in bester Absicht korrumpiert", sagte Markaris über die Subventionen der Gemeinschaft während der vergangenen Jahrzehnte: "Brüssel hat es zugelassen, dass die griechischen Regierungen die EU-Mittel vergeudet haben und im Volk verteilten. Die Griechen geben immer mehr aus als sie einnehmen. Es hat sich die schlechte Vorstellung eingebürgert, das geborgte Geld sei Teil des Einkommens." Und eine Mitverantwortung dafür trägt angeblich die Europäische Union.

Im Grunde ist Griechenland Europas letzter sozialistischer Staat, egal, wer gerade regiert, die Sozialisten oder die Konservativen. Zwei Familienclans, die Papandreous und die Karamanlis, wechseln sich bei der Regierungsführung mehr oder weniger ab. Der Unterschied zur absurden Demokratur Silvio Berlusconis in Italien liegt darin, dass die Griechen bereits seit mehreren Generationen von einer Doppeldynastie geführt werden.

Griechenlands derzeitiger Ministerpräsident Georgios Papandreou von der sozialistischen Pasok-Partei ist der Sohn von Andreas und der Enkel von Georgios Papandreou. Beide waren ebenfalls Ministerpräsident. Die Karamanlis-Familie von der konservativen Partei Nea Dimokratia hat nach dem Zweiten Weltkrieg zwei Minister- und Staatspräsidenten ins Amt gebracht, zuletzt bis 2009 Konstantinos Karamanlis, von den 1950er- bis in die 90er-Jahre mehrfach dessen Onkel Konstantin. Solch stabile Bindungen an ein politisches Patriarchat basieren in der Regel auf großzügigen Zuwendungen an die eigenen Wähler - auf Privilegien, Pöstchen und pekuniären Gaben. Auch daraus erklären sich die wuchernden Staatsausgaben und Schulden in Athen.

Es war selbstverständlich, dass Griechenland 1981 der Europäischen Gemeinschaft beitrat, zumal das Land die Militärdiktatur der Obristen Mitte der 70er-Jahre selbst abgeschüttelt hatte. Auch der Beitritt der Griechen zur Europäischen Währungsunion 2001 wurde durchgewinkt - obwohl Experten damals schon mutmaßten, dass die Griechen die Aufnahmekriterien nur durch die plumpe Fälschung ihrer Wirtschaftsdaten erfüllen konnten. Aber Griechenland, die Wiege der europäischen Demokratie, Philosophie und Naturwissenschaften, konnte bei der Erweiterung der Gemeinschaft unmöglich übergangen werden.

Griechenland ist - ähnlich wie Süditalien - womöglich eine jener Regionen, die ihre Zukunft bereits vor ihrer Gegenwart gelebt haben. Erziehen kann Europa die Griechen nicht. Wirtschaftlich ist das Land in der EU ein Fliegengewicht. Vielleicht hilft deshalb nur die radikale Variante: den Fall ignorieren, keine Nachahmer stimulieren und auch die Spekulanten an den internationalen Finanzmärkten nicht. Aussitzen, solange es geht. Vielleicht genügt ja die Zeit, um die Griechen zur Besinnung zu bringen. Oder, noch besser, zum Maßhalten.