Jeder sucht das schönste Wort. Eines, welches wie Würfelzucker auf der Zunge liegt und von selbst schmilzt, sobald man es aussprechen will, ein Wort, so kostbar und klug und einzigartig, so unfassbar, dass nur daraus ein Universum geschaffen werden kann.

Aber ich frage, was das bringen soll. Das schönste Wort. Was ist schon das schönste Wort allein? Ohne einen Satz? Ich habe mich schön gemacht, jedenfalls was im Allgemeinen so darunter zu verstehen ist. Eine Jeans, darüber einen Rock, die Haare gekämmt und das Top gebügelt. Nichts Besonderes. Das ist meine Stadt, und ich will etwas unternehmen, einen Film im Kino sehen oder mit einer Gruppe auf Decken im Park liegen, wie man eben so weitermacht, wenn sich alle einig sind, wie gut es mir doch geht. Angesichts der Umstände.

Von Punkt A nach Punkt B in der kurzmöglichsten Zeit mit dem geringsten Einsatz von Energie. Da bleibt in der Stadt nur eine Wahl. Nicht mal den Kopf muss ich heben, um nach oben zu blicken. Ich öffne einfach die Augen, und da könnte ich den Himmel sehen, wenn nicht noch etwas dazwischen wäre. Metall und Plastik, Stein und Beton, Erde und Abflussrohre und darüber die Straßen, die Häuser, die Bäume, die Stadt. Die gesamte Welt liegt über mir, und ich frage mich, wie sie das aushält, ohne in sich zusammenzustürzen. Der Tunnel allein kann sie ja schlecht halten. Ich könnte die Hände ausstrecken und nach oben drücken und damit einen zusätzlichen Halt anbieten. Doch ich bliebe lieber zwischen den Kaugummiresten. Es liegt sich hart hier. Ich habe nicht darum gebeten, bin zwischen Sitzen hindurch zu Boden gerutscht. Vielleicht blute ich ja ein wenig, aber ich glaube das nicht. Eine Hand fühle ich an meinem Puls und eine auf meiner Stirn. Jemand beugt sich hinab zu mir und will mich küssen. Sarah vielleicht. Vielleicht möchte mich jemand wiederbeleben. Nach einem Arzt wird gerufen, erst leise, dann energisch und daran merke ich die Zeit, die vergeht. Lichter rasen draußen vorbei. Von dort quietscht und kratscht und schubbert es, während innen die Menschen tuscheln und sorgen und schauen.

"Sie ist einfach so umgekippt", meint ein Mädchen, das gerade noch neben mir gesessen haben könnte, und "Kreislauf" ein älterer Herr, der sich vielleicht mit so etwas auskennt, sich vielleicht wichtig machen will. Dann ratscht es erneut, und die Lichterschlangen werden zu Flächen, und ich habe nicht länger das Gefühl, die Umgebung würde sich drehen, sondern nur noch ich. Von hier an sind es vielleicht zweihundert Meter, dreißig davon vertikal. Die werde ich schon schaffen, hin über den Bahnsteig, die Rolltreppen hinauf durch die Station.

Sie haben mich fortgebracht, die starken Arme, und sie haben sich gesorgt, die bestürzten Blicke, und in der Summe bringt mir das gar nichts, außer mich nach Hause. Und dort habe ich ein Wort gefunden, welches wunderschön ist und für sich allein stehen kann, und ich habe es sofort wieder vergessen. Jetzt bin ich nicht mehr schön, nur noch allein.

Ich schätze die Ruhe hier. Die Explosionen sind lautlos, und in den Bäumen raschelt nur der Wind. Im Ascheregen stehe ich auf dem Feld und höre das Geräusch, wenn Asche den Boden berührt. Nur hauchdünn liegt sie auf dem Acker, unter der spröden Kruste schimmern schwach vereiste Wasserlachen. Es ist still, alles offen und weit. Die Tiere schlafen, die Menschen weit entfernt in ihren Wohnungen. Ich schätze die Kälte, die meine nackten Beine hinaufklettert. Ich schätze die roten Flecken auf meinen Wangen, meine eingerissenen Lippen, ebenso die brennenden Stellen hinter meinen Ohren. Ich liebe den Moment, wenn das Blut wieder zu fließen beginnt. Hier ist nur Himmel. Über mir, links, rechts, vor, hinter mir, in allen Richtungen nur Himmel. Keine von Menschen geschaffenen Objekte. Jeder Tag ist wunderschön, jeder Tag ist warm, abgeregnet hat es sich im Juli, jetzt wird geerntet und Getreidespelzen treiben durch die Luft.

Ich schätze die Ruhe, denn niemand stört mich, wenn ich einen umgestürzten Blumentopf betrachte. Stundenlang. Niemand kommt, und wenn jemand kommt, verhält er sich vollkommen normal, als wäre es auch vollkommen normal. Genauer gesagt ist im Blumentopf eine Nessel, eine Feuernessel. Ich glaube der Wind hat sie umgeworfen oder die Katze von nebenan, vielleicht war ich es auch, damit ich die Nessel betrachten kann. Sie liegt auf dem Rasen, direkt am Fuße des Steingartens, wo die anderen Pflanzen stehen. Ein wenig Erde ist verschüttet, aber Erde auf Erde fällt nicht auf. Ameisen krabbeln über die Blüten, wie eine Perlenschnur aufgereiht, eine Perlenschnur, die sich bewegt. Also keine Perlenschnur. Wenn ich hier sitze und denke, dann frage ich mich, wer schon mit Sicherheit sagen kann, welche die richtige Position des Blumentopfs ist. Wenn die Nessel aufrecht steht, oben auf dem Steingarten, da sieht sie schön aus und erfreut die Menschen und nutzt den Bienen. Wenn die Nessel liegt, nutzt sie den Ameisen. Ich weiß nicht, was daran verkehrt sein könnte, auch wenn ich weiß, dass meine Mutter die Nessel wieder zurückstellen wird, wenn ich nicht mehr im Garten bin.

In der Ferne zeichnen sich Schemen ab, diesmal bin ich mir sicher, wird das Sarah sein. Wir wollen zusammen Emergency Room sehen, uns ein bisschen verlieben und sachte spotten, wenn sie wieder Lieder einblenden, weil ihnen keine Geschichte eingefallen ist. Das ist Sarah, gemeinsam haben wir Stecknadeln auf die Stellen im Stadtplan gestochen, die wir schon besucht haben. Viel weniger sind das, als wir uns für ein Jahr vorgenommen hatten, aber die Stadt ist so groß. Acht Millionen Einwohner und nur dreihundertfünfundsechzig Tage. Ein Zimmer, zwei Betten und der Blick auf die Themse, wenn die Häuser dazwischen nicht wären. Das muss Sarah sein, die jetzt neben mir sitzt, während meine Fingernägel so sanft auf meiner Haut kreisen, dass ich keine Schmerzen spüre, sondern mein Blut. Lege den Arm um mich, Sarah, und weine, weil wir jung und einsam sind und tanze, weil wir jung sind und alles wunderbar wird. Unter meiner Haut bebt es zart, erschüttert die feinen weißen Härchen, der Blutkreislauf arbeitet, ohne etwas von der Umgebung, in der er arbeitet zu ahnen. Das ist Mama, die sich neben mich setzt und gemeinsam mit mir ins Nichts starrt, jedenfalls für eine Minute, und mich zum Abendbrot bittet.

Dann ist das erste Jahr schon wieder vorbei, und ich sitze im Sessel. Diesmal läuft nicht Thomas Gottschalk durch eine Stierkampfarena auf Mallorca, sondern der Premierminister kniet vor einem Kranz, den er eben abgelegt hat. Wie alle erschüttert sind. Ich spüre die Blicke von Mama und Papa an meiner Seite, ihre Fingerkuppen ganz nah am roten Knopf der Fernbedienung. Beim ersten Anzeichen meinerseits würden sie die Finger senken. Aber ich kenne die Bilder, da ist nichts Neues. Dampf steigt wieder auf, und Menschen rennen durch den Ascheregen und kreischen in den dunklen Röhren. Auch ich hätte mein Handy in den Tunnel gerichtet und gefilmt, vielleicht wäre das heute im Fernsehen, aber mein Handy ist verschwunden. Ich sehe Sarah, zweimal in der Sekunde, und ich sehe weiter zu. Und seltsam, ich fühle den Zorn. Dafür der Aufwand? Dafür bin ich hier? Dafür nur noch offenen Himmel? Es gibt ja nicht mal einen Namen dafür. Niemand kennt das Datum, jeder weiß nur, "irgendwann im Juli" und fragt "Anfang Juli war das doch?" Und gestorben sind auch nicht viele. Es hätten so viel mehr sein müssen, jeder Tote hätte die Tragödie verdoppelt, hätte meine Tragödie verdoppelt. Dann wäre ich Teil von etwas wirklich Bedeutendem, dann hätte ich auch tot sein können, das wäre egal. Aber so? Ein paar Bilder hier, ein paar Kränze dort. Es hätte den Alltag von jedermann sprengen müssen. Das wäre angemessen. Keine guten Gedanken, weiß ich schon, deshalb erzähle ich niemandem davon. Ich schließe das Badezimmer ab, stelle mich in die Duschkabine und drehe das Wasser auf. Es ist kalt. Den Strahl richte ich auf den Abfluss. Das ist mein erster geschlossener Raum, auf eigenen Wunsch. Meine Befürchtungen sind gering. Man muss sich seiner Angst stellen, sonst stellt die Angst dich. Marlon Brando hat das gesagt oder Kofi Annan oder ich hab's in einem Grundlagenbuch über Psychologie gelesen. Da finden sich einige interessante Parallelen. Wenn ich die Beschreibungen studiere, ist es, als ob ich meiner eigenen Operation beiwohnen könnte. Alles offen, jedes Organ sichtbar, jedes Geheimnis in Kapillaren oder Muskelsehnen entblößt. Doch wenn ich verstehe, warum ich mich so fühle, bedeutet das nicht, dass ich verstehe, warum ich mich so fühle.

Aus dem Bus springt eine gesamte Schulklasse oder nur ein paar Mädchen, jedenfalls ist viel Platz im Überlandbus. Eine Stunde braucht er bis zur nächsten größeren Stadt, also einer mit Bahnhof. Genügend Zeit, mich meiner Angst zu stellen und gegebenenfalls aufzugeben. Wäre beides nicht schlimm. Nur ist ja klar, dass ich eines Tages auch wieder fort will, und das geht nur in geschlossenen Räumen, die sich bewegen. Die Fahrkarten haben wir schon gekauft, Mama schiebt sie dem Fahrer zu, der verweist auf den Automaten, an dem sie abgegolten werden. Wir sind lange nicht mehr mit dem Bus gefahren, wir haben keine Ahnung, was uns erwartet. Im Heimatdorf sind alle ausgestiegen. Nur in den vorderen Sitzreihen ein Mütterchen mit einem schweren Beutel und Blumen. Wir nehmen in der Mitte Platz, nahe der hinteren Tür, die sich zischend schließt. Ein Geräusch, das ich kenne. Langsam nimmt der Bus Fahrt auf.

Mama hat auf die Uhr geschaut, heimlich, vor mir verborgen, also habe ich sie gefragt, und sie hat gesagt, "eine halbe Stunde noch". Im Grundlagenbuch hätten sie bestimmt empfohlen: eine halbe Stunde schon. Immer motivieren, immer auch die noch so kleinsten Schritte feiern, niemals Druck ausüben. Aber Mama hat nichts gelesen, sie hat Urlaub genommen, seit vielen Wochen schon. Schließlich die Landstraße, die sich ewig zwischen zwei winzigen Ortschaften hinzieht. Ohne Kurven, kaum Bäume. Früher sind wir hier nachts mit dem Moped gerast und später stundenlang zurückgelaufen, weil wir das Moped in unserem Zustand nicht mehr fahren konnten.

Dann fährt der Bus in den Tunnel ein. Es geht bergab, der Fahrer muss sich konzentrieren und viel mehr bremsen als Gas geben, weil das Gefälle höllisch ist. Schnell schrumpft das Tageslicht in unserem Rücken zu einem winzigen Punkt. Offensichtlich haben sie vergessen, den Tunnel mit Lampen auszustatten. Selbst die grünlich schimmernden Notausgangsleuchten fehlen an den Wänden. Nur von innen glühen wir, bis zum Maximum hat der Fahrer die Beleuchtung aufgerissen. Plötzlich drehen die Räder durch. Sie scheuern sich am Asphalt wund, bevor sie den Kontakt mit dem Boden verlieren. Wir fallen, jedenfalls für eine Sekunde, und wenn Mama sich nicht an mir festgehalten hätte, wer weiß, vielleicht wäre sie mit dem Kopf durch das Fenster geknallt. Der Beutel des Mütterchens saust an uns vorbei, Rucksäcke mit Bomben, was keinen Sinn ergibt, weil wir ja vorwärts stürzen. Oder der Bus bremst. Jedenfalls kriecht Dampf aus allen Ritzen, übellauniger Rauch, der sofort den geschlossenen Raum ausfüllt. Man sieht jetzt gar nichts mehr, man kann nur tasten und ahnen, und ich weiß, dass ich hier raus müsste und das schnellstens. Also flüchtig überprüft, ob ich blute, dem scheint nicht so und Sarah an die Hand genommen. Sie ruft mir irgendetwas zu, aber das ist wirklich schwer zu verstehen, zwischen dem kreischenden Metall und brüllenden Menschengewimmel. Überall sind Körper, über manche müssen wir steigen, gegen andere stoßen wir, andere stoßen uns weg; und wir müssen unsere Fingernägel in unsere Handflächen schlagen, damit wir uns halten können. Ohne den Auftrag erhalten zu haben, übernehme ich die Führung, suche ich für uns den Weg. Das sind natürlich alles nur Zufälle, die mich mal hierhin, mal dorthin taumeln lassen, das ist keine gerichtete Bewegung. Beim Luftholen fängt meine Zunge Staub ein, vielleicht Asche. Sarah wird es ähnlich gehen, sie hustet. Aus der Tasche nestle ich mein Handy, vielleicht weist uns das Licht vom Display einen Weg. Gleich darauf wird es mir aus der Hand geschlagen, gleich darauf sind wir schon einige Schritte weiter. Wir müssten hier raus, am besten noch schneller.

Liegt über uns der Russel Square? Und falls ja: Wäre Hawaii nicht genauso weit entfernt? Zwischen uns und oben ist Metall und Plastik, Stein und Beton, Erde und Abflussrohre. Die ganze Welt liegt über uns beziehungsweise sie stürzt gerade ein. Eben dies ist der Moment, in dem ich keinen Schmerz mehr spüre. Den Schmerz von Sarahs Fingernägeln in meinen Handflächen. Es ist erstaunlich, wie lang der Moment der Erkenntnis benötigt. Auch wenn ich abgelenkt werde (kleinere Feuer, allumfassende Dunkelheit, viel zu wenig Luft zum Atmen): Ich hätte das sofort bemerken müssen, und als ich die Konsequenzen ziehe, ist Sarah wie mein Handy einige Schritte von dem Ort entfernt, an dem ich mich befinde. Und als wäre das nicht genug, gerate ich in einen Strom von Leuten, die offensichtlich wissen, wo oben ist. Der Strom nimmt mich in die Mitte und drängt mich unerbittlich hinaus, ohne dass ich eine Chance hätte an Rauch zu ersticken oder von herabfallenden Teilen erschlagen zu werden.

Draußen empfängt mich meine Mutter. Sie legt meinen Kopf in ihren Schoß, sie schließt die Arme, presst mein Gesicht gegen den Stoff ihres Rockes. Gerade bemerke ich noch, wie sich tuschelnd die Bustüren schließen und das Mütterchen am Fenster auf uns blickt. Sie, der Bus verschwindet. Ich habe schon mal gesagt, hier ist nur Landstraße, keine Kurven, kaum Bäume. Hier ist also nichts, und deshalb macht es wohl Sinn, dass mir das schönste Wort einfällt, so unfassbar, dass daraus ein Universum geschaffen werden kann. Aber das wäre der falsche Augenblick, es zu sagen.

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