Hannover. Die thailändischen Jungen und ihr Trainer sind gerettet. Adolf Herbst konnte mitfühlen. Er hat das Wunder von Lengede miterlebt.

Adolf Herbst könnte diese Geschichte als Heldengeschichte erzählen, schließlich handelt sie davon, wie er zwei Wochen in einer Höhle überlebt hat, zusammen mit zehn anderen Männern. Er könnte sie aber auch als Kriminalgeschichte erzählen, weil die Schuldigen für das Grubenunglück von Lengede im Jahr 1963 nie bestraft wurden. Oder man erzählt es wie Adolf Herbst selbst, als Liebesgeschichte: „Ich wäre ja nie in der Höhle gelandet, wenn ich nicht unbedingt den Freitag hätte frei haben wollen“, sagt er, „denn ich wollte mit meiner Dagmar unsere Verlobung feiern.“ Seine Frau Dagmar sitzt neben ihm, als er das erzählt, sie lächelt schwach.

Sein Schicksal, nach zwei Wochen eingeschlossen im Berg gerettet zu werden, nannten damals alle „Das Wunder von Lengede“. Und schon deshalb verfolgte Adolf Herbst gerade „Das Wunder von Chiang Rai“ sehr genau. Schon die erste Nachricht vom Verschwinden der zwölf jungen Fußballspieler in Thailand brachte die Erinnerungen zurück.

Er verfolgte, wie jeden Tag mehr und mehr Informationen bekannt wurden und sah in der Zeitung den Querschnitt der Höhle und verschiedenen Theorien über ihre Rettung. Er war damals zwei Wochen in 60 Meter Tiefe eingeschlossen. Die Jungen in Chiang Rai waren aber 600 bis 700 Meter tief unter der Erde.

Adolf Herbst erinnert sich an Hoffnung

„Ich dachte, das dauert noch Wochen, bis die wieder gerettet werden“, sagt er, „vor allem dachte ich, dass sie es von oben probieren, mit einem Bohrer, so wie bei uns damals.“ Die Erlebnisse von damals sind alle wieder da. Normalerweise hat er sie abgeheftet, in einem dicken Ordner, die Fotos, die Zeitungsausschnitte, die Erinnerungen aus der Zeit. Auch: die Totenliste. „Das fühlt sich alles so nah an, so wie gestern“, sagt er, „der Kopf ist ein besserer Speicherort als ein Computer.“

29 Menschen sind bei dem Unglück gestorben am 24. Oktober 1963, und auch für ihn und seine zehn Kollegen, mit denen er in der Höhle eingeschlossen war, gab es keine Hoffnung mehr. Die Suche wurde eingestellt, es wurde bereits eine Trauerfeier organisiert. Doch einige der Kumpel kannten die eingeschlossene Höhle im Berg, sie wussten, dorthin könnten sich noch einige zurückgezogen haben. Sie mussten noch einmal bohren. Und so setzten sie den Bohrer an. Das aber wussten die Männer unten im Berg nicht, die saßen bei völliger Dunkelheit und warteten.

Aber Adolf Herbst erinnert sich nicht zuerst an die Ausweglosigkeit. „Aus irgendeinem Grund habe ich immer noch gehofft, dass wir gerettet werden“, sagt er. Er könne das nicht genau erklären, ob es der Glaube an Gott oder an etwas anderes war. „Außerdem wussten wir ja auch, dass es noch Menschen da draußen gab, die ebenfalls hofften, dass wir noch lebten.“ Es gab immer ein Blubbern im Wasser, das muss die Luft gewesen sein, die sie noch in die Höhle gepumpt haben. Die Grubenleitung hätte die Belüftung abschalten können, aber sie taten es nicht. „Und dann kam ja auch plötzlich die Taschenlampe von oben durch das Loch.“

In der Dunkelheit begannen Kumpel zu fantasieren

Die Rettung kam in Lengede von oben. In seinen Akten liegt noch eine Kopie von dem Zettel, den die elf Eingeschlossenen nach oben schickten. Darauf stand: „Wir haben Hunger und Durst und kein Licht. Vielleicht Zigaretten und Feuer?“ Er muss lachen, er raucht längst nicht mehr. Damals in der Höhle habe keiner geweint, damals sagte man eher: Rauchen wir noch eine und dann ist Schluss. Oben wartete damals seine Freundin auf ihn. Und auch davon hat er ein Bild im Ordner: Dem ersten Kuss mit ihr nach der Rettung. Er hat sie dann geheiratet, zwei Jahre später. 54 Jahre seien sie jetzt zusammen.

„Andere laufen da weg“, sagt er und lacht. Überhaupt macht er häufig Witze über die Zeit unter Tage. So als ob das quälende Warten in der feuchten, engen, totalen Finsternis – das gleiche, was auch die Jungen in Thailand durchmachten – nicht nur schrecklich war, sondern auch ihre Fantasie beflügelt habe. „Einer begann sich zu baden im Wasser“, sagt er, und ein zweiter habe zu fantasieren begonnen, wie er in einen Zug einsteige, der 60 Meter über ihnen mit leichtem Rattern zu hören gewesen sei. „Was ist, wenn der Schaffner kommt“, sagt er, „wir spielten durch, wie wir uns vor dem Schaffner verstecken mussten.“

Adolf Herbst wird die Artikel über Thailand lesen

Doch die Spätfolge der Nässe spürt er bis heute. Er ist zum Teil Invalide wegen der Wasserschäden. Auch die Jungen in Thailand waren zwei Wochen in der Höhle eingeschlossen. Auf den Fotos, die bisher veröffentlicht wurden, kann man sie lächeln sehen, aber was die Kälte und Nässe mit ihren Körpern angerichtet hat, wird sich erst in den kommenden Wochen zeigen. Adolf Herbst wird auch diese Artikel lesen, weil er und die zwölf jungen Männer in Thailand jetzt ein Schicksal teilen. Ähnlich wie die 33 Männer in Chile, die 69 Tage unter Tage in einem eingestürzten Bergwerk ausharren mussten. Auch sie konnten alle gerettet werden.

Adolf Herbst hat den Chilenen damals einen Brief geschrieben. Darin steht, dass er so wie sie eingeschlossen war, dass er ihnen „Esperanza y confianza“ (Hoffnung und Zuversicht) wünsche und vor allem: Glück auf. Dieses Mal hat er das nicht getan, aber jetzt sind die Jungen schon gerettet. Auch sie werden nicht alles erzählen, was in der Zeit ohne Licht und Hoffnung passiert ist. „Ich nenne das meine Black Box“, sagt Herbst. „Das ist die Kiste“, er formt eine zehn mal zehn Zentimeter-Kiste in der Luft, „in der ich die Dinge aufbewahre, von denen ich nie erzählen werde.“ Er wolle diese Geschichten mit ins Grab nehmen. „Manche Dinge muss man nicht aussprechen, das tut nicht gut.“ Nur so viel, man verliere das Gefühl dafür, wer man sei. Man vergisst, dass man ein Mensch sei.

Aber dann kam das Licht zu ihm zurück. Dann sah er seine Frau. Heute haben sie eine erwachsene Tochter. Er erteilt einen Ratschlag: „Wenn sie jemanden gefunden haben, dann bleiben sie bei dem, das ist wichtig.“