Regensburg/Berlin. Gewalt gegen Körper und Psyche, auch sexueller Missbrauch: Bei den Regensburger Domspatzen wurden mehr als 500 Kinder misshandelt.

Sie sprechen von „Hölle“, vergleichen ihre Schulzeit mit einem Konzentrationslager und nennen es die schlimmste Zeit ihres Lebens: Mindestens 547 ehemalige Sänger der Regensburger Domspatzen wurden zwischen 1945 und Anfang der 1990er-Jahre während ihrer Schulzeit Opfer von Gewalt. Die meisten Jungen wurden durch körperliche oder psychische Grausamkeiten misshandelt, in mindestens 67 Fällen auch durch sexuelle Gewalt gepeinigt.

Zu diesem erschreckenden Ergebnis kommt der Abschlussbericht zum Missbrauchsskandal bei dem weltberühmten Knabenchor, der am Dienstag vorgelegt wurde. Zwei Jahre lang hat der mit der Aufklärung beauftragte Rechtsanwalt Ulrich Weber recherchiert. Er wurde im April 2015 vom Bistum Regensburg und der Stiftungsleitung der Domspatzen beauftragt, das Ausmaß des Missbrauchs aufzudecken. Nun nannte Weber 49 Personen als „hochplausibel eingestufte Beschuldigte“.

Strafrechtlich sind die Fälle mittlerweile verjährt

Verantwortlich für die Gewalt seien in vielen Fällen der Direktor der Vorschule und sein Präfekt gewesen. Es müsse aber davon ausgegangen werden, dass nahezu alle Verantwortungsträger bei den Domspatzen zumindest ein Halbwissen über Gewaltvorfälle gehabt hätten, vom Musiklehrer bis hin zu den Ordensschwestern. Der Rechtsanwalt spricht sichtlich betroffen von einer „Kultur des Schweigens“. Der Schutz der Institution habe stets im Vordergrund gestanden.

Der mit der Aufklärung beauftragte Rechtsanwalt Ulrich Weber bei der Präsentation seiner Ergebnisse.
Der mit der Aufklärung beauftragte Rechtsanwalt Ulrich Weber bei der Präsentation seiner Ergebnisse. © dpa | Armin Weigel

Auch der schriftliche Bericht zeigt das Ausmaß des Skandals, der größer ist als zunächst angenommen: „In allen drei Bereichen Schule, Chor & Musikerziehung und Internat war Gewalt ein alltägliches Mittel. Neben den negativen Folgen in der Kinder- und Jugendzeit wirken die damaligen Gewalterlebnisse bei vielen Opfern bis heute in Form psychischer Traumata nach. Bis auf wenige Ausnahmen waren die Vorfälle körperlicher Gewalt im gesamten Berichtszeitraum verboten und strafbar. Die sexuellen Übergriffe sind ebenso als Straftat einzuordnen“, heißt es in der Zusammenfassung.

Der Komponist und Regisseur Franz Wittenbrink besuchte das Internat der Domspatzen; er war ein Vorzeigesänger. Aber auch ein gedemütigter Elfjähriger. „Im Präfektenzimmer musste ich die Hose und den Schlafanzug ausziehen und bin nackt mit der Hand durchgeprügelt worden“, erzählt er. Die Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein der Kinder seien ohne Rücksicht ausgenutzt worden, sagt er im ZDF.

Viele Opfer durchlebten die „Hölle“ bei den Domspatzen

Auch in dem Abschlussbericht sind Zitate der Opfer aufgeführt: „Die drei Jahre dort möchte ich als absolute Hölle bezeichnen. Tägliche Angst; richtige Angstzustände. Oftmals schlaflose Nächte, da mir die Angst meinen Schlaf raubte.“ Ein anderer berichtet: „Doch die Kindheit im Sinne einer schönen, glücklichen Zeit war mit dem Eintritt bei den Domspatzen vorbei. Ein regelrechter Albtraum hatte begonnen. Es war die Hölle. Die Hölle, die ein Priester und sein Helfer aufstießen.“

Viele Opfer zogen auch einen Vergleich zur Herrschaft des Nationalsozialismus: „Es war wie im KZ-Lager. Man hat sich zu 100 Prozent in die Vorgaben fügen müssen.“

Vorwürfe treffen heutigen Kardinal Gerhard Ludwig Müller

Die Vorwürfe der Aufklärer treffen auch den heutigen Kardinal Gerhard Ludwig Müller und den ehemaligen Chorleiter Georg Ratzinger, Bruder des emeritierten Papstes Benedikt XVI. Dem damaligen Chorleiter Ratzinger seien „sein Wegschauen, fehlendes Einschreiten trotz Kenntnis vorzuwerfen“, sagt Weber.

Kardinal Müller hatte als Regensburger Bischof bei Bekanntwerden des Skandals 2010 eine Aufarbeitung in die Wege geleitet. Dieses Nachforschen sei aber mit vielen Schwächen behaftet gewesen, etwa, weil man nicht den Dialog mit den Opfern gesucht habe, heißt es im Bericht.

Betroffene sollen mit bis zu 20.000 Euro entschädigt werden

Der Regensburger Generalvikar Michael Fuchs bat die Opfer um Entschuldigung. „Wir haben alle Fehler gemacht und haben viel gelernt. Wir sehen heute, dass wir früher manches besser hätten machen können.“ Der Bruder des emeritierten Papstes sei ein emotionaler Mensch und habe früher auch Ohrfeigen ausgeteilt. Dies habe er mittlerweile bedauert und sich auch entschuldigt.

Die Betroffenen sollen nun mit jeweils bis zu 20.000 Euro entschädigt werden. Das Anerkennungsgremium schätzt die Gesamtsumme auf 2,5 bis drei Millionen Euro. Opfervertreter haben angekündigt, mit Kardinal Müller sprechen zu wollen. Dieser hatte persönliche Treffen mit den Opfern bislang stets abgelehnt.