Das Verfahren gegen Jörg Kachelmann endet mit Freispruch. In ihrer Urteilsbegründung rechnen die Richter in beispielloser Schärfe ab.

Michael Seidling ist ein bedächtiger Richter, Typus freundlicher Großvater, stoisch und ausgeglichen, mit nettem badischen Zungenschlag, kein Mann der großen oder gar lauten Worte. Nur selten schlägt der 60-jährige Jurist in seinem Gerichtssaal auf den Tisch, in der Regel dann, wenn es im Publikum zu arg rumort oder wenn gar jemand auf den hinteren Rängen es wagt, zu applaudieren oder zu buhen. Erst nach neun Monaten Verhandlung, in der Stunde seiner Urteilsbegründung, wurde daher deutlich, wie sehr sich der Vorsitzende Richter der 5. Großen Strafkammer und seine Beisitzer seit Monaten aufgeregt haben müssen über das Spektakel im und um den Fall Jörg Kachelmann. Seidlings Vortrag über die Gründe, warum sich die Richter am Ende doch zu einem Freispruch durchrangen, geriet zu einer harschen Abrechnung: mit dem Verteidiger Johann Schwenn und seinen rüden Angriffen auf Staatsanwaltschaft, Gutachter und Kammer, mit parteiischen Journalisten und mit den juristischen Laien, die sich im Internet teilweise beleidigend über den Fall ereifert hatten.

Vor allem aber schickte Seidling die Nachricht in die Welt: Trotz Freispruchs ist das Gericht von der Unschuld Kachelmanns mitnichten überzeugt. Auch geht die Mannheimer Kammer nicht davon aus, dass dem Schweizer von seiner Ex-Freundin aus Rachsucht eine Falle gestellt wurde, wie es die Verteidigung behauptete. Es hat nur, wie Juristen in solchen Fällen gerne salopp sagen, eben nicht gereicht für eine Verurteilung. Die Gesamtschau, die Betrachtung aller Indizien, kam zu dem Schluss: Die Verdachtsmomente verflüchtigten sich zwar längst nicht komplett, aber am Ende überwogen doch die Zweifel, ob Kachelmann tatsächlich getan hat, was die Nebenklägerin Claudia D. behauptete.

Kachelmann schweigt zum Urteil - Verteidiger kritisiert Verfahren

Und so blieb den Richtern nichts anderes übrig, als zähneknirschend nach dem Grundsatz zu handeln: in dubio pro reo - im Zweifel für den Angeklagten. "Das menschliche Erkenntnisvermögen ist begrenzt", zog Seidling fast resigniert Bilanz nach 44 Prozesstagen und einer akribischen Beweisaufnahme. Und: "Wir sind überzeugt, dass wir die juristisch richtige Entscheidung getroffen haben. Befriedigung verspüren wir dadurch jedoch nicht." Die Staatsanwaltschaft will nun binnen einer Woche, wie es gesetzlich vorgeschrieben ist, ihren Revisionswillen überprüfen. Gerüchten zufolge hatte die Ermittlungsbehörde der Kammer zuvor signalisiert, dass sie wegen des immensen Aufwands einer erneuten Verhandlung auf diesen Schritt verzichte. Das wollte Sprecher Andreas Grossmann zwar nach dem Urteil nicht bestätigen. Aber seine Äußerungen klangen keineswegs danach, dass die Behörde wild entschlossen sei, in die nächste Instanz zu gehen.

Kachelmann, der dem Geschehen fast reglos folgte, kam in der einstündigen Urteilsbegründung gar nicht gut weg. Wiederholt sagte Richter Seidling, der Schweizer habe seinen Freundinnen gegenüber ein manipulatives Verhalten an den Tag gelegt, sprich: Er hat sie gesteuert, betrogen und ausgenutzt. Mit seismografischem Gespür habe er sich die Frauen, die ihm vertrauten, gefügig gemacht, indem er beispielsweise einen Kinderwunsch vorgaukelte oder vorgab, eine gemeinsame Wohnung zu planen. Und weil zudem täglich unzählige Chat- und SMS-Nachrichten hin- und hergingen, habe Claudia D. daher keinerlei Anlass gehabt anzunehmen, dass sie nicht die einzige Frau in Kachelmanns Leben sei.

An dieser Stelle kritisierte Seidling heftig die Attacken einzelner Medien, die die Geliebten an der Seite des Moderators als dumm und naiv hingestellt hatten. Wer seinen Liebhaber nur einmal im Monat sehe, könne doch nicht im Ernst an eine feste Partnerschaft glauben, hatten manche Journalisten argumentiert. Solche Berichte, rügte Seidling, hätten die ohnehin schwer getroffenen Frauen, die Kachelmann vertrauten, zusätzlich gedemütigt. "Rationalität und Liebe gehen nicht zwingend Hand in Hand", sagte der Richter fast philosophisch.

Ohnehin nutzte er ausführlich die Gelegenheit für eine Generalabrechnung mit den berichterstattenden Journalisten - was Wunder nach dem Medienspektakel der vergangenen Wochen. Nur eine sehr überschaubare Zahl von Berichterstattern fand die Gnade des Vorsitzenden, weil sie sachlich und ausgewogen berichtet hätten. Der Rest habe dem Rechtsstaat und dem Ansehen der Justiz Schaden zugefügt. "Statt der gebotenen Zurückhaltung gegenüber dem laufenden Verfahren prägten vorschnelle Prognosen, das einseitige Präsentieren von Fakten und mit dem Anschein von Sachlichkeit verbreitete Wertungen die Berichterstattung." Dies erschwere die Akzeptanz eines Richterspruchs. Kritik an dem häufigen Ausschluss der Öffentlichkeit wies er zurück. "Das Gericht ist bei der Durchführung der Hauptverhandlung nicht der Befriedigung des Sensations- und Unterhaltungsinteresses verpflichtet."

Überraschend ausführlich nahm sich der Richter die einzige Aussage von Kachelmann vor, die dieser seit seiner Verhaftung im März 2010 gemacht hatte. In seinen Ausführungen vor einem Amtsrichter habe der 52-jährige Wettermann nachweislich in mehrfacher Hinsicht gelogen, sagte Seidling. Diese Erkenntnis, gewonnen offenbar vor allem in den nicht öffentlichen Befragungen der Zeugen, war im gesamten Verfahren nie so klar thematisiert worden wie in der Urteilsbegründung - selbst in den Plädoyers der Staatsanwälte nicht. So glaubten die Richter dem Wettermann nicht, dass ihn seine Freundin in der fraglichen Nacht im Februar 2010 - wie bei ihrem Sexspiel üblich - mit einem bestimmten Ritual empfangen habe: die Tür angelehnt, sie selbst mit hochgezogenem Kleid bereits im Bett. Auch wurde Kachelmann negativ ausgelegt, dass er vor dem Amtsrichter versucht hatte, Claudia D. als sexbesessene Frau hinzustellen, die sich ihm elf Jahre zuvor regelrecht aufgedrängt habe. Zeugenbefragungen, unter anderem der Eltern, hätten ergeben, dass alles ganz anders gewesen sei.

Klar war dem Gericht aber auch, dass die Anzeigeerstatterin Claudia D. ebenfalls hier und da die Unwahrheit gesagt hatte. Zwar nannte es Richter Seidling einen "weit verbreiteten Irrglauben", wenn man annehme, dass jemand, der in einem Nebenpunkt log, auch im Kernpunkt die Unwahrheit sagt. Doch musste er einräumen: Dass sie ihre Ermittler angelogen hatte, habe Claudia D. "angreifbar" gemacht. Die Lüge wog offenbar sehr schwer bei der Beweiswürdigung. Ob also in der fraglichen Februarnacht 2010 eine Vergewaltigung unter Messereinsatz stattfand oder ob Kachelmann die Wohnung der Ex-Freundin ohne Straftat verließ, vermochte die 5. Große Strafkammer nicht zu entscheiden. Nach 43 Tagen Beweisaufnahme, über 30 Zeugen und Tausenden gesammelten Aktenseiten musste die Kammer feststellen: "Verschiedene Sichtweisen sind möglich." Deswegen sei der Staatsanwaltschaft, die Anklage erhoben hatte, auch kein Vorwurf zu machen. Doch weil das Gericht feststellen musste, dass "jede Beweiskette in die eine wie in die andere Richtung immer wieder abreißt", war eine Verurteilung nicht möglich.

Schließlich entließ Seidling die Medien und Zuschauer mit einer eindringlichen Mahnung: "Bedenken Sie, dass Herr Kachelmann möglicherweise die Tat nicht begangen hat und deshalb zu Unrecht als Rechtsbrecher vor Gericht stand. Bedenken Sie aber auch, dass Frau D. möglicherweise Opfer einer schweren Straftat war."

Kachelmanns Anwalt Johann Schwenn schäumte fast, als er im Foyer des Landgerichts vor die Kameras ging. Die Kammer hätte den Angeklagten "zu gerne verurteilt" und habe in ihrer Urteilsbegründung nach dem Motto "Feuer frei" noch einmal so richtig nachgetreten, um Jörg Kachelmann "maximal zu beschädigen". Schwenn sprach von einer "Erbärmlichkeit, die ihresgleichen im Gerichtssaal sucht".

Verwunderlich ist die Empörung nicht. Denn der Richter hatte Schwenn nicht nur für seine rüden Manieren und seinen mangelnden Respekt gerügt, sondern auch dafür, dem Gericht wie Kindern auf die Finger klopfen zu wollen. Die Kammer revanchierte sich mit der Unterstellung, zum Ausgang des Prozesses habe Schwenn eigentlich gar nichts beigetragen. Alle Beweise seien längst angelegt gewesen, als er im Dezember ins Verfahren gekommen sei. Damit wollte Seidling dem Hamburger Anwalt die Genugtuung nehmen, das zuvor vom Kölner Strafverteidiger Birkenstock betreute Verfahren noch rechtzeitig gedreht zu haben.

Jörg Kachelmann selbst hörte der Urteilsbegründung regungslos zu. Der mit grauem Anzug und grauer Krawatte bekleidete Angeklagte hielt sich aufrecht und steif, unentwegt fixierte er die Richterbank. Auch als nach dem Freispruch Applaus und Jubel von Zuschauern zu hören waren, reagierte er nicht. Nach dem Urteil verließ er sofort den Saal, Fragen beantwortete er nicht. Bei der Abfahrt im Wagen seiner Pflichtverteidigerin saß er auf der Rückbank, den Kopf in beide Hände gestützt.