Im AKW Fukushima droht weiter eine Kernschmelze. Reaktor 3 enthält MOX-Brennelemente mit hochgiftigem Plutonium

Fukushima/Hamburg. Es ist der Kampf gegen einen gänzlich unsichtbaren Feind. Man kann die radioaktiven Strahlen nicht sehen und nicht anfassen. Man kann ihnen deshalb auch nicht entkommen. Und weil die Regierung ihre Landsleute eher zögerlich darüber informiert, was genau momentan in den Reaktorblöcken in Fukushima und Onagawa vor sich geht, befürchten viele Japaner nach dem schwersten Erdbeben in der Geschichte des Landes und einer zerstörerischen Flutwelle nun eine atomare Katastrophe.

Es sind Bilder wie aus einem Science-Fiction-Film. Männer in weißen Schutzanzügen halten die Japaner in den betroffenen Gebieten auf der Straße an und messen vor provisorischen Zeltstationen mit Geigerzählern eine mögliche Strahlenbelastung. Und gleichzeitig versucht die Regierung zu beruhigen. Es bestehe keine unmittelbare Gefahr für die Bevölkerung. "Eine Kontamination an Gesicht oder Händen stellt keine Gesundheitsgefährdung dar", sagt ein Sprecher. Gleichzeitig werden zur Strahlenabwehr Jod-Tabletten an die Bevölkerung ausgegeben. Und es gibt Meldungen, dass 160 Menschen verstrahlt sind.

Die "Mainichi Shimbun", drittgrößte Tageszeitung in Japan, schrieb gestern in ihrer Online-Ausgabe, dass "im schwer zerstörten Osten unseres Landes im beschädigten Kernkraftwerk Fukushima 1 nach einer Kernschmelze im Reaktor 1 nun auch eine Kernschmelze im Reaktor 3 aufgetreten ist". Es gehe nun die Angst um, dass wie auch schon im Reaktor 1 das Gehäuse des Reaktors 3 explodieren könnte.

"Es wurde immer gesagt, dass Japan beim Erdbebenschutz in den Sicherheitsstandards weltweit führend sei", schreibt die Zeitung, "aber jetzt meinen Experten, nachdem es hintereinander zu mehreren gravierenden Zwischenfällen gekommen ist, dass die Lage akut gefährlich ist. Es ist kein Anhaltspunkt in Sicht, welche Lösung es geben könnte, um aus dieser unerhörten Situation herauszukommen."

Niemand weiß derzeit, ob die japanische Regierung wirklich alles sagt, was sie weiß. Ein Regierungssprecher dementierte gestern Mittag prompt eine Kernschmelze in Reaktor 3 in Fukushima. Nur zwei Stunden später wurde dann auch für das Atomkraftwerk Onagawa der Notstand ausgerufen. Wenig später hieß es, der Anstieg der Radioaktivität im Atomkraftwerk Onagawa sei das Ergebnis des Lecks im Kraftwerk Fukushima. Die Betreibergesellschaft Tohoku sehe keine Probleme bei der Kühlung von Onagawa.

Kurz darauf schlug die Nachrichtenagentur Kyodo unter Berufung auf die Feuerwehr in einer Eilmeldung Alarm: Im Reaktor Tokai 2 des Atomkraftwerks in der Präfektur Ibaraki hat eine Pumpe des Kühlsystems die Arbeit eingestellt. Die Anlage befindet sich rund 120 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Tokio und hatte sich bei dem Beben am Freitag automatisch abgeschaltet. "Unsere Meereswasserpumpe, die durch einen Dieselgenerator angetrieben wird, ist wegen des Tsunamis ausgefallen, worauf wir eines unserer Kühlsysteme manuell ausgeschaltet haben", sagte Masao Nakano vom Betreiber Japan Atomic Power Company der Nachrichtenagentur AFP. "Aber die anderen Kühlsysteme und Pumpen arbeiten gut, und die Temperatur des Reaktors ist nach und nach immer weiter gesunken." Greenpeace spricht mittlerweile von einer "unverantwortlichen Informationspolitik". Christoph von Lieven, Strahlenschutz-Experte der Umweltschutzorganisation, kritisierte gegenüber dem Abendblatt, dass die Regierung bereits am Freitag alle betroffenen Atommeiler durch Polizei und Militär hat absperren lassen. "Niemand kommt mehr an die Anlagen heran, um dort Messungen vorzunehmen", sagt der 48-jährige Energie-Experte. "Es ist völlig unklar, was da im Augenblick passiert." Klar ist nur: Die Situation in Fukushima ist außer Kontrolle geraten.

Seit Ende der 60er-Jahre ist Fukushima einer der bedeutendsten Atomkraftstandorte Japans. Zwischen 1967 bis 1982 entstanden an der erdbebengefährdeten Küste zwei Kraftwerke mit insgesamt zehn Reaktoren, von denen jetzt mehrere von den Auswirkungen des Bebens betroffen sind.

Nachdem die Behörden anfangs umgehend einen Radius von rund drei Kilometern rund um das Kraftwerk evakuiert haben, wovon knapp 6000 Menschen betroffen waren, wurde das Gebiet inzwischen auf 20 Kilometer ausgeweitet. Mittlerweile wurden 210 000 Menschen, die in der Nähe des AKW Fukushima 1 wohnten, evakuiert.

Problematisch sind die dort in Reaktor 3 vorhandenen MOX-Brennelemente. Denn sie enthalten, im Gegensatz zu Brennelementen aus reinem Urandioxid, auch einen Plutonium-Anteil. Brisant ist Plutonium vor allem, weil wenige Kilogramm zum Bau einer Atombombe genügen. Das 1941 entdeckte Schwermetall hat eine Halbwertszeit von 24 000 Jahren. Das heißt, nach dieser Zeit ist erst die Hälfte der Radioaktivität abgeklungen.

"Der Plutonium-Anteil in Fukushima liegt unseres Wissens nach zwischen drei und sechs Prozent", sagt Christoph von Lieven. Gefährlich sei die hochgiftige Alpha-Strahlung des Plutoniums, vor der man sich zwar "quasi durch ein Blatt Papier" schützen könne. Wenn Plutonium aber freigesetzt werde und es zur Berührung oder Inhalation komme, sei der Tod schon im Mikrogrammbereich unausweichlich.

Um das Schlimmste zu verhindern, versuchen die Behörden nun, die außer Kontrolle geratenen Reaktoren mit Meerwasser zu kühlen. Ein verzweifelter Versuch im Kampf gegen die Zeit und die weiter ansteigenden Temperaturen im Innern der Reaktoren. Sebastian Pflugbeil, Strahlenschutzexperte, ist skeptisch: "Das steht in keinem Handbuch." Diese Maßnahme könne auch dazu führen, dass die Reaktorhülle schneller zerbreche.

Für Christoph von Lieven ist nicht klar, ob das Meerwasser direkt zur Kühlung der Brennstäbe eingesetzt wird. Dann müsse ihm Brom zugefügt werden, da durch das Wasser alleine die Reaktionen im Innern beschleunigt werden würden. "Wir fragen uns, was machen die da?", sagt von Lieven.

Es könne auch sein, dass nur der äußere Behälter mit dem Wasser gekühlt werden soll. Für den Greenpeace-Experten aus Hamburg "eine heikle Geschichte, durch die der Prozess der Kernschmelze nicht aufgehalten wird".

Nach Ansicht des Strahlenbiologen Edmund Lengfelder vom Otto-Hug-Strahleninstitut in München könnten die atomaren Folgen noch schlimmer werden als vor 25 Jahren in Tschernobyl. Zwar sei der Ablauf der Katastrophe unterschiedlich, aber Japan sei 20- bis 30-mal so dicht besiedelt wie die Umgebung des ukrainischen Unglücksreaktors: "Ich gehe davon aus, dass es schlimmer wird als in Tschernobyl."

Japan steht nach Meinung des Nuklearexperten Wolfgang Renneberg vor einem Super-GAU, wenn im Atomkomplex Fukushima nicht rasch die Probleme mit der Kühlung gelöst werden. Brennstäbe drohen zu zerschmelzen und mehrere Reaktorbehälter könnten durch Hitze, Druck, Gase und gestiegene Radioaktivität zerstört werden. "Das ist im Augenblick eine Situation auf der Kippe", sagte der langjährige Leiter der Abteilung für Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium.

Eine Meldung sorgte in Japan gestern für etwas Erleichterung: Der Wind wird in den kommenden Tagen nach Nordosten wehen, also weg von den Bevölkerungszentren aufs Meer. Das teilte die Internationale Atomenergiebehörde IAEA mit. Die Windrichtung ist von großer Bedeutung, weil sie darüber entscheidet, wohin sich eine radioaktive Wolke ausbreitet. Der schlimmste Fall wäre, wenn radioaktiver Staub in den Ballungsraum Tokio gelangen würde, der etwa 250 Kilometer südwestlich von Fukushima liegt.