Lage in Japan immer dramatischer. Weiterer Reaktor außer Kontrolle. Neue Explosion befürchtet. Streit um deutschen Atomkurs bricht wieder auf

Tokio/Hamburg. Knapp 66 Jahre nach den Atombomben-Abwürfen auf Hiroshima und Nagasaki kämpft Japan verzweifelt gegen eine neue nukleare Katastrophe. In mehreren vom Erdbeben schwer getroffenen Kernkraftwerken spitzte sich gestern die Lage dramatisch zu. Nach dem wahrscheinlichen Einsetzen einer Kernschmelze im Reaktor 1 des AKW Fukushima I scheint auch der Reaktor 3 der Anlage außer Kontrolle zu geraten. Techniker versuchten nach dem Ausfall der Kühlsysteme mit dem Einleiten von Meerwasser einen GAU (größten anzunehmenden Unfall) zu verhindern. Ob die inneren Stahlbehälter den immer heißer werdenden Brennelementen standhalten, halten Experten für ungewiss.

Ministerpräsident Naoto Kan bezeichnete die Lage in Fukushima als alarmierend. Auch im Reaktor Tokai fiel eines der Kühlsysteme aus. Die Radioaktivität in der Region stieg auf das 400-Fache der normalen Strahlung an. In einem Umkreis von 20 Kilometern um Fukushima mussten rund 210 000 Menschen ihre Häuser verlassen. An viele wurden vorsorglich Jod-Tabletten ausgegeben. Bei 160 Menschen stellten Ärzte bereits Verstrahlungen fest.

Für Millionen Japaner im Nordosten der Insel Honshu sind es Tage wie im Albtraum. Am Freitag hatte eine bis zu zehn Meter hohe Welle nach einem Monsterbeben (Stärke 9 Richterskala) eine Küstenlinie auf Hunderten Kilometern Länge in eine Trümmerlandschaft verwandelt. Im besonders betroffenen Gebiet etwa 300 Kilometer nördlich der Hauptstadt Tokio zerstörte der Tsunami viele Städte und Dörfer fast vollständig. Allein in der Provinz Miyagi werden mehr als 10 000 Einwohner vermisst. Wie viele Menschen der Naturkatastrophe tatsächlich zum Opfer fielen, ist noch völlig unklar. Die rund 100 000 Helfer von Armee, Feuerwehr und zivilen Rettungsorganisationen, darunter auch das deutsche THW, konnten viele Orte wegen unpassierbarer Straßen noch nicht erreichen. Nach Schätzungen der Behörden sind bei Nachttemperaturen um den Gefrierpunkt mindestens 1,4 Millionen Haushalte ohne Wasser und 2,5 Millionen Haushalte ohne Strom. Vielerorts werden Benzin und Lebensmittel knapp.

Die größte Sorge aber gilt den Atomreaktoren. Am Sonnabend hatte es im Kernkraftwerk Fukushima eine gewaltige Explosion gegeben, nachdem Meerwasser in den überhitzten Reaktor 1 eingeleitet worden war. Die äußere Hülle des Reaktors wurde abgesprengt, eine unbekannte Menge an Radioaktivität freigesetzt. Mit einer ähnlichen Detonation müsse man auch im Reaktor 3 rechnen, sagte ein Regierungssprecher. Noch sei es aber nicht zu einem Durchschmelzen der stählernen Sicherheitsbehälter gekommen. In einem solchen Fall befürchten Experten ein unvorstellbares Desaster. Der Strahlenbiologe Edmund Lengfelder vom Otto-Hug-Strahleninstitut in München sagte: "Ich gehe davon aus, dass es schlimmer wird als in Tschernobyl 1986." Japan sei viel dichter besiedelt als die Ukraine und Weißrussland. Greenpeace-Experten wiesen darauf hin, dass der Reaktor 3 in Fukushima mit Mischoxid-Brennelementen betrieben werde, die auch das hochgiftige Plutonium enthielten. Für Deutschland allerdings besteht nach übereinstimmenden Angaben auch im Falle eines GAUs keine Gefahr. Die Entfernung sei einfach zu groß, hieß es.

In der Bundesrepublik entbrannte unter dem Eindruck der Katastrophe von Neuem die Diskussion um die Nutzung der Kernenergie. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte, die deutsche Politik dürfe "nicht einfach zur Tagesordnung übergehen". Alle deutschen Reaktoren müssten jetzt auf ihre Sicherheit noch einmal streng überprüft werden. Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) sprach von einer "Zäsur". Es stelle sich die Frage der Beherrschbarkeit der Atomtechnik.

SPD, Grüne und Linke verlangten eine Kehrtwende der Regierung und einen schnellen Atomausstieg. Die Entscheidung zur AKW-Laufzeitverlängerung sei falsch gewesen. SPD-Chef Sigmar Gabriel forderte, die nicht gegen Flugzeugabstürze geschützten Reaktoren in Brunsbüttel, Biblis oder Neckarwestheim müssten sofort vom Netz genommen werden. Die Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz würden zur Abstimmung über den Atomkurs. Die deutsche Kernenergiebranche warnte dagegen vor "übereilten Schlussfolgerungen". "Jeder deutsche Reaktor ist auf jeden Fall besser ausgerüstet als der in Fukushima", sagte der Präsident des Atomforums, Ralf Güldner, dem "Handelsblatt". Naturkatastrophen wie in Japan seien in Deutschland "nicht vorstellbar".