Wie der 11. September und der Tsunami 2004 auf einmal: Über die ikonografische Wucht der Bilder aus der Katastrophenregion Japans.

Ob es in unserer Zeit tatsächlich mehr Feuersbrünste, Überschwemmungen und Erdbeben gibt als je zuvor, das mögen Statistiker untersuchen. Auch ob sich darin die Folgen des Klimawandels zeigen, ob Mutter Erde sich rächt für all die Zerstörung, die der Mensch ihr zugefügt hat, bleibe dahingestellt. Man könnte es allerdings glauben, wenn selbst ein so besonnener Zahlendeuter wie der ARD-Wahlexperte Jörg Schönenborn den gestrigen "Presseclub" im Ersten mit der Bemerkung abmoderiert, ihn beschlichen angesichts der Geschehnisse in Japan Erinnerungen an Frank Schätzings Roman "Der Schwarm". Die Revanche der maritimen Natur ist dort das Thema.

Der Tsunami in Japan in Verbindung mit den Folgen für inzwischen drei Atomkraftwerke an der Küste ist die dritte Katastrophe globalen Ausmaßes in diesem noch jungen Jahrhundert. Die erste war der 11. September 2001, die zweite der Tsunami in Asien im Dezember 2004. Der Hurrikan "Katrina", das Erdbeben auf Haiti, die Bohrinsel "Deepwater Horizon", die den Golf von Mexiko in eine Kloake verwandelte, die Brände und Überschwemmungen in Australien 2011: alles grauenhaft, alles furchtbar, alles entsetzlich - und doch von der medialen Wirkung her für uns unvergleichbar und - vielleicht unverdient - viel weniger präsent.

Die immer neuen Bilder, die seit Sonnabend im Fernsehen eine Ahnung vom Ausmaß der Zerstörung vermitteln, wirken in ihrer ikonografischen Wucht wie die Summe aus dem 11. September und der Mörderwelle in Asien im Dezember 2004. Erst kam das brackfinstere Meer, das - viel mehr noch als damals an den Urlauberstränden von Thailand - komplette Häuser, Schiffe, Lastwagen, Autos, Strommasten, Straßen zusammenschob und vor sich her trug wie ein unermesslicher, verflüssigter King Kong die weiße Frau. In Minutenschnelle zerbrach der dicht besiedelte urbane Raum in ein apokalyptisches Miniaturwunderland und verschwand in der Flut. Dann sahen wir die unheilvollen Bilder von Fukushima. Auch wenn das Atomkraftwerk keinem Terroranschlag zum Opfer fiel wie das World Trade Center in New York, ist es doch wieder ein einzelnes Gebäude, das die vermeintliche Erhabenheit, Herrschaft und Großartigkeit des Menschen symbolisieren sollte und das beim Überraschungsangriff in die Knie geht wie nichts, mit unabsehbaren Folgen. Geldmacht und industrielle Souveränität: ein Kartenhaus.

Das Bild vom Dach des Reaktorblocks in Fukushima I, das am Sonnabend Experten zufolge nach einer Knallgas-Explosion in die Luft flog wie der Metalldeckel auf dem Korken einer Champagnerflasche, wird sich ins kollektive Gedächtnis ähnlich nachhaltig einprägen wie die brennenden und einstürzenden Zwillingstürme von New York. Es markiert den schrecklichen Anfang von etwas, bei dem die Welt nur in optimistischsten Visionen noch mal glimpflich davonkommen dürfte. Zumindest bis gestern Abend saß der Korken selbst noch in der Flasche. Trotzdem halten die Bilder vom Knall und dem dann aufsteigenden Rauch über dem Reaktorgelände den Moment einer globalen Zäsur fest.

Erstmals beweisen sie in Echtzeit, was damals bei Tschernobyl oder Harrisburg nur in seinen Folgen und mit reichlich Zeitverzögerung zu besichtigen war: Der GAU, der nicht mehr beherrschbare größte anzunehmende Unfall, ist eine reale Gefahr, und er kann das verheerende Resultat einer simplen Explosion sein. Ranga Yogeshwar, der Wissenschaftsexperte der ARD, rief uns als Gast mehrerer Sondersendungen den Chemieunterricht in Erinnerung. So einfach, Knall auf Fall, kann also die Welt zugrunde gehen.

In diesem Schreckensbild steckt auch ein Mikrogramm Erlösung, zeigt es doch, dass das Szenario, vor dem die Atomkraftgegner (und gewiss auch manche Befürworter der Kernenergie) die größte Angst haben, alles andere ist als Propaganda oder Panikmache.

Und wie schon beim 11. September sind wir wieder live dabei, vor dem Fernseher, und wieder sind wir unheimlich weit weg. Von Hamburg aus liegt der Schauplatz trügerische 8800 Kilometer weit entfernt, am anderen Ende der Welt. Und bei allem Mitgefühl beten wir auch in eigenem Interesse, dass der Wind noch viele Tage weiter kräftig nach Nordosten blasen möge.

Nicht auszudenken, was eine ähnliche Katastrophe mit entsprechend katastrophaler Öffentlichkeitsarbeit hier an Emotionen freisetzen würde? Bis zu einem gewissen Grad lässt es sich erahnen. Die ARD hob aus aktuellem Anlass am Sonnabend ein Doku-Stück über Tschernobyl ins Programm, das ursprünglich wohl zur Ausstrahlung zum 25. Jahrestag des Reaktorbrands in der UdSSR Ende April vorgesehen war. Abgesehen davon, dass die bundesdeutsche Welt Mitte der Achtziger aussah, als sei alles mindestens doppelt so lang her oder eher Satire als Dokumentation - die Brillen, Frisuren und Klamotten, die Art zu reden, das festbetoniert erscheinende Ost-West-Gefüge: Zu welchem heiligen Zorn die Leute hier fähig sind, wenn die Regierung sie belügt oder im Unklaren lässt, das ließ sich schön studieren. Die Politiker sollten das gründlich tun.