Die Tokioter versuchen mit stoischer Gelassenheit die Katastrophe zu überstehen. Immer mehr Ausländer verlassen die Stadt und das Land

Tokio. Die Erde kommt in Japan noch immer nicht zur Ruhe. Noch immer erschüttern heftige Nachbeben bis zur Stärke von 6,2 auf der Richterskala das Land. Berichte über Schäden oder neue Opfer liegen aber nicht vor. Seit Freitag haben die Tokioter schon mehr als 150 Nachbeben registriert.

Christian Rudelt, 32, der am Freitag das schwere Erdbeben in Tokio miterlebt hat (das Abendblatt berichtete), denkt am Sonnabendnachmittag nicht an Kernschmelze und Reaktoren, an Flucht und Evakuierung. Er wähnt sich gemeinsam mit seiner Frau in der Wohnung im Stadtteil Shinjuku zunächst in Sicherheit. "Doch dann lasen wir im Internet die ersten Berichte über die Vorfälle im Kernkraftwerk", sagt er. Das Paar stellt fest, dass die Tokioter damit beginnen, sich mit Lebensmitteln einzudecken. Trockensuppen, Fertiggerichte, Mineralwasser. Die Regale in den Supermärkten sind teilweise leer gefegt. "Und niemand konnte uns irgendwas Konkretes sagen", erzählt Rudelt. Er kauft vorsorglich einen Gaskocher, denn inzwischen hat die Regierung Stromsperren angekündigt.

Am Abend telefonieren sich die Mitarbeiter des Deutschen Wissenschafts- und Innovationshauses zusammen. Die Gerüchte von einer bevorstehenden Kernschmelze verdichten sich. Man beschließt gemeinsam, nach Osaka zu fahren, 800 Kilometer entfernt von den zerstörten Atommeilern Fukushima - und den beiden anderen Kernkraftwerken Onagawa und Tokai.

Die Bahnfahrt verläuft ruhig, ohne Komplikationen. Der Hochgeschwindigkeitszug "Shinkanzen" ist voll, aber nicht überfüllt. Und er fährt pünktlich. Jetzt überlegen die Rudelts gemeinsam mit einer stets wachsenden Gruppe von Landsleuten in einem Hotel in Osaka, wie es weitergehen soll. Ausreisen? Nach Dubai oder Vietnam? Die Flüge nach Deutschland sind ausgebucht.

Rudelts japanische Kollegen wollen bleiben. Japaner neigen nicht zur Panik, hier zeigt man seine Gefühle nicht. "Doch die Stimmung in der Stadt", sagt Rudelt, "war eine andere als noch tags zuvor." Die Angst vor der Ungewissheit sei vielen Menschen anzumerken gewesen. Die sonst so auf Höflichkeit bedachten Inselbewohner hätten ihre Floskeln vergessen; sie hätten geschwiegen, jeder für sich. Denn wer Fernsehprogramme empfangen kann, hat auch die anderen Bilder gesehen, diejenigen aus dem Norden, wo es wahrscheinlich weit mehr als 10 000 Tote zu beklagen geben wird, wo bereits fast 400 000 Menschen evakuiert worden sind. Bilder wie das von der unbekannten Frau in der hellen Daunenjacke, deren Hände zittern: Sie hält den Hörer eines Satellitentelefons dicht ans Ohr gepresst, als könne sie so ein Gespräch erzwingen. Ihrem Gesicht ist anzusehen, dass der Anruf vergeblich ist. Sie legt den Hörer auf, wischt sich Tränen aus den Augen und stellt sich stumm gleich wieder ans Ende der langen Schlange vor den acht Satellitentelefonen in einem der riesigen Evakuierungszentren. Die Menschen hier haben das Beben überlebt, sind dem Tsunami entkommen - aber die meisten quält die Sorge um ihre Angehörigen. "Wir wissen nicht, ob meine Schwiegermutter überlebt hat", erzählt ein junger Mann mit stockender Stimme, die dann versagt. Seine Frau sitzt neben ihm, um Haltung bemüht. Auf ihrem Schoß ihr kleines Kind, das sie mit Brei füttert.

Es sind Routineabläufe wie diese, die Betroffenen nach Katastrophen ein wenig Halt geben. Denn Routine hat etwas mit Alltag zu tun, mit Normalität. Und nichts wünscht man sich mehr als Normalität, wenn die Welt um einen herum nicht mehr die ist, in der man sich sicher gefühlt hat.

Es sind nur wenige Passanten unterwegs auf den Straßen der sonst so quirligen Hauptstadt Japans. Es gibt keine Schlangen an Tankstellen, keine an Geldautomaten. Das öffentliche Leben läuft auf Sparflamme. Während im Norden des Landes die Menschen sterben und im Atomkraftwerkskomplex Fukushima die Rettungsmannschaften gegen den GAU kämpfen, steht im Hibiya-Park neben dem Kaiserpalast eine Schar Hobbyfotografen an einem Teich. Durch die Teleobjektive ihrer Kameras fotografieren sie scheinbar seelenruhig die Vögel. "Natürlich haben wir Angst, besonders vor dem Atomunfall", sagt Shuji Yoshida, Geologieprofessor an der Universität Chiba. "Ein Atomunfall ist unbekannt für uns."

Die unsichtbare Angst der Japaner verwundert die Welt. Die Erde bebt, Häuser kollabieren, Tsunamis schwemmen Städte weg. Aber es findet sich keine Spur von Panik. Denn auch die Menschen sind erdbebensicher. Sie schwanken, aber sie verlieren nicht den Kopf.

Die Französin Sandra Miyanagi, 30, die mit ihrer zwei Jahre alten Tochter Moka und ihrem japanischen Ehemann im Tokioter Bezirk Edogawa lebt, sagt: "Ich weiß nicht mehr, wem ich glauben soll!" Immer mehr ihrer Freunde aus dem Ausland verlassen Tokio in Richtung Süden oder Japan in Richtung Heimat. Doch ihr Ehemann glaube, dass die Regierung alles im Griff habe. "Was die westlichen Medien verbreiten, hält er für Panikmache", sagt Sandra Miyanagi.

Das glaubt auch Maya Mochizuki, 31, die mit ihrer Tochter Noe mittags im Park war. "Die Sonne hat geschienen, es war warm, und die Menschen haben sich die Kirschblüten angeguckt", sagt Maya Mochizuki. "Wir haben mal eine Pause von der Anspannung, dem ständigen Starren auf den Bildschirm gebraucht. Das tat gut." Ihre japanischen Kollegen, glaubt sie, werden heute wohl pünktlich zur Arbeit erscheinen.

"Wir wissen, dass das vielleicht die größte Katastrophe ist, die Japan je erlebt hat, aber wir bleiben trotzdem ruhig", sagt der Übersetzer Katsuyoshi Kuriya (32). Zusammen mit seinen Mitbewohnern sitzt er vor dem Fernseher, kocht, diskutiert. Zur Arbeit wollen sie alle gehen. "Es sei denn, die Situation eskaliert." Aber danach sieht es nicht aus: Die Bahnlinien in Tokio haben ihren Betrieb wieder aufgenommen, die Supermärkte sind wieder besser ausgestattet, auch wenn noch viele Regale leer sind. "Die Leute kaufen mehr, als sie eigentlich brauchen", sagt er. Zu seiner Familie auf die südliche Hauptinsel Kyushu zu fliehen, kommt für ihn nicht infrage. "Ich glaube, die Behörden haben die Situation einigermaßen im Griff." Trotzdem kann er sich vorstellen, dass sie etwas verheimlichen. "Aber wir Japaner tendieren dazu, auf das zu hören, was uns die Regierung sagt."

Verglichen mit den Zuständen in Tokio gleicht die Hafenstadt Sendai im Nordosten Japans der Hölle. Die Straßen der "grünen Stadt" stehen voller Wasser oder Schlamm. Mehr als 1000 Leichen seien bereits geborgen. Zertrümmerte Autos und entwurzelte Bäume liegen herum, ein Flugzeug hat sich mit der Nase tief in die Trümmer eingestürzter Holzhäuser gebohrt. Es gibt keinen Strom, auch das Telefonnetz ist zusammengebrochen. Menschen warten geduldig vor den Supermärkten, die wieder geöffnet haben, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen. Auch vor Tankstellen drängen sich Kunden.

Eine Autostunde entfernt von Sendai halten Techniker mit weißen Atemschutzmasken in Schutzanzügen Geigerzähler an Menschen, um sie auf Verstrahlung zu überprüfen. "Ich komme mir vor wie im Kino", schildert Ichiro Sakamoto, 50, in der Stadt Hitachi seine Eindrücke. Wenn er allein sei, sagt er, kneife er sich manchmal, um endlich aufzuwachen aus diesem Albtraum.