Der Amoklauf von Cumbria hinterlässt viele Fragen. Auch und vor allem die, warum Derrick Bird zuerst seinen Zwillingsbruder erschoss.

London. Der Taxifahrer Peter Leder ist wohl der Letzte, mit dem Derrick Bird gesprochen hat. Mit den Worten: "Du wirst mich nicht wiedersehen", trennten sich am Dienstagabend ihre Wege. Knapp 18 Stunden später waren 13 Menschen tot, 25 Menschen verletzt und Peter Leder wusste jetzt, was sein Kumpel und Kollege "Birdy" mit dem kryptischen Abschied gemeint hatte.

Am Abend zuvor hatte Bird noch drei Kollegen zur Rede gestellt, weil die ihm angeblich Fahrgäste ausgespannt hatten. Es hatte Streit gegeben. Doch niemand hätte dem 52 Jahre alten Mann eine solche Wahnsinnstat zugetraut. Auch wenn er, wie es die Tageszeitung "The Guardian" erfahren haben will, während des Streits den Amoklauf wortwörtlich angekündigt haben soll.

Der Vater zweier Söhne galt als kollegial und fleißig

Der geschiedene Vater zweier Söhne lebte allein in dem kleinen Dörfchen Rowrah. Er galt als fleißig und kollegial, trank nach Feierabend gern ein paar Bierchen. Bloß Nachtschichten fuhr er schon seit ein paar Jahren nicht mehr. An den Wochenenden ging Bird manchmal auf die Jagd: Er besaß seit 20 Jahren mindestens eine der 22 476 legalen Schusswaffen, die zurzeit allein in der idyllischen Grafschaft Cumbria im Nordwesten Englands registriert sind. Ein Jagdgewehr. Wahrscheinlich besaß er jedoch noch mehr.

"Ich kannte ihn seit 15 Jahren. Er war immer freundlich und hatte immer Zeit für ein Hallo", beschreibt Ryan Dempsey seinen Nachbarn, noch immer völlig geschockt. Kollegen und Pub-Bekanntschaften erinnern sich noch gut daran, wie Derrick Bird sich gefreut hatte, als er vor wenigen Wochen Großvater geworden war.

"Birdy", der Familienmensch. Und "Birdy", der Killer: Er hatte zwei Brüder, aber offenbar hatte nur Derrick Zeit und Lust, seine kranke Mutter zu pflegen. Für die Ermittler sind diese engen Familienbande derzeit die heißeste Spur auf der Suche nach dem "Warum". Denn es ist sehr wahrscheinlich, dass der Amokfahrt ein schon jahrelang schwelender Streit ums Familienerbe vorausgegangen war. Dafür spricht, dass "Birdy" nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen zuerst seinen Bruder Dave im Bett und danach den Anwalt der Familie, Kevin Cummons aus Frizington, erschoss. Sein drittes Opfer war Darren Rewcastle, einer der Kollegen, mit denen er sich gestritten hatte. Danach tötete er noch neun weitere Menschen, diese jedoch anscheinend wahllos, bevor er sich selbst in einem Wald das Leben nahm. Sein Hass muss groß gewesen sein: Den meisten seiner Opfer schoss er ins Gesicht.

Für die englische Kriminalpsychologin Jackie Craissati entspricht Derrick Bird dem klassischen Bild des Amokläufers: ein Weißer aus der unteren Mittelschicht mit einer normalen, aber nicht unbedingt extrem glücklichen Kindheit und als Erwachsener so unspektakulär, dass selbst auffälligste Merkmale vom näheren Umfeld nicht wahrgenommen würden. "Es ist häufig ein jahrelanger Prozess, der die Mentalität und den Charakter dieser Menschen verändern kann. Irgendwann entwickeln sie für ihre Lage einen Tunnelblick. Alle anderen sind schuld, sie sind nicht mehr in der Lage, ihre Wut zu unterdrücken, und dann braucht es nur noch einen winzigen Anlass, um über den Rand der Klippe zu gehen." Die Psychologin vermutet nach der bisherigen Sachlage, dass Derrick Bird einkalkuliert hatte, sich selbst zu töten. "Er sah in der kleinen, begrenzten Umgebung, in der er lebte, offenbar keinen anderen Ausweg, seine Konflikte zu lösen. Ein Abtauchen in die Anonymität war ebenso unmöglich wie eine Flucht."

Großbritannien hat schon die schärfsten Waffengesetze

Obwohl bisher weder die Gründe noch der genaue Tatverlauf für Derrick Birds Amoklauf gesichert sind, wurden sofort Stimmen laut, die ein totales Waffenverbot fordern. Dabei hat Großbritannien bereits die strengste Verordnung der Welt, die aufgrund zweier ähnlicher Verbrechen in zwei Schritten vom Parlament verabschiedet wurde: 1988 wurden nach dem Amoklauf von Hungerford, wo Michael Ryan 16 Menschen erschoss, alle halb automatischen Waffen sowie besonders großkalibrige Schrotflinten verboten.

1996, nach dem Massaker von Dunblane, bei dem 17 Menschen starben, wurde dieses Verbot auch auf kurzläufige Waffen ausgedehnt. Innenministerin Theresa May versprach gestern zwar vor dem Londoner Unterhaus, die Gesetze einer erneuten Überprüfung zu unterziehen, aber erst nach einer peniblen Untersuchung der gesamten Umstände, die zu "Birdys" Tat führten.