Wie durch ein Wunder überlebte ein Neunjähriger das jüngste Flugunglück in Tripolis. Die übrigen 103 Passagiere kamen ums Leben.

Johannesburg/Tripolis. Ruben atmet. Beide Beine sind gebrochen, viermal insgesamt. Der kleine Körper des Neunjährigen hat Dutzende Blutergüsse davongetragen, sein Kopf eine schwere Gehirnerschütterung. 104 Menschen waren laut Passagier- und Crewliste an Bord von Flug 771, der am Dienstagabend in Johannesburg abhob. 103 starben bei einem Absturz sieben Stunden später, kurz vor der Landung in der libyschen Hauptstadt Tripolis. Darunter auch Rubens Bruder und die Eltern, die in Südafrika eine Safarireise gemacht hatten. Aber der Junge aus dem niederländischen Tilburg atmet. Wenn auch zunächst nur mit Hilfe einer Sauerstoffmaske.

Mit einem weißen Verband um den Kopf lag er gestern in einem Krankenhaus. Sein Zustand war gestern nach Angaben der Ärzte stabil, die Organe intakt, was nicht nur Jerzy Buzek, der Präsident des Europäischen Parlaments, als "ein wirkliches Wunder" wahrnahm. Es gehe dem Jungen "den Umständen entsprechend einigermaßen gut", teilte die niederländische Regierung mit, nachdem ihn ein Botschaftsangestellter besucht hatte.

Wie es zu dem Absturz des Airbusses A330 der staatlichen libyschen Fluggesellschaft Afriqiyah Airways kam, ist derweil noch unklar. Augenzeugen berichteten, das Flugzeug sei "beim Landeanflug in Flammen aufgegangen und völlig zerfallen". Unter den Toten befinden sich mindestens 70 Niederländer und ein Deutscher. "Von 17 Passagieren, die ums Leben gekommen sind, kennen wir die Nationalität noch nicht", sagte ein Sprecher der Fluggesellschaft. Gestern schlossen die örtlichen Behörden einen Terroranschlag aus. Auch die Sicht war klar und die Vulkanasche-Wolke aus Island 3000 Kilometer weit entfernt. Am Flughafen von Tripolis hatte es seit dem Jahr 1989 keine tödlichen Abstürze gegeben. Näheren Aufschluss sollen nun die beiden geborgenen Flugschreiber und Untersuchungen eines französisch-libyschen Expertenteams bringen.

Sie fanden am Unglücksort mit dem Flugzeugheck eines der größten Wrack-Teile vor. Die bunten Ziffern "9.9.99" waren noch zu erkennen, eine stolze Referenz auf das Gründungsdatum der Afrikanischen Union vor knapp elf Jahren. Wenig später entwickelte Libyen damals mit fünf geleasten Flugzeugen die Afriqiyah Airways (Afrikanische Fluglinie) - ein weiterer Versuch, Fernreisen in Afrika zu erleichtern.

Denn nur drei Prozent des weltweiten Flugverkehrs finden auf diesem Kontinent statt. Für viele Routen ist deshalb entweder ein wilder Zickzackkurs oder ein Zwischenstopp in Europa erforderlich, obwohl das einen enormen Umweg bedeutet. Flüge in Afrika sind teuer und umständlich, was nicht zuletzt ein Problem für die Fans der sechs afrikanischen Teilnehmer bei der WM 2010 in Südafrika darstellt: Oft wird die jeweilige Regierung Charterflugzeuge für die treuesten Anhänger bereitstellen.

Afriqiyah Airways war 2001 mit dem Ziel angetreten, afrikanische Direktflüge anzubieten. Das Unternehmen, das vor drei Jahren elf weitere Airbus-Maschinen kaufte, galt auch mit seinen Sicherheitsstandards als vorbildlich - bislang hatte es keinen Absturz gegeben. Die Unglücksmaschine war ordnungsgemäß zehnmal an europäischen Flughäfen inspiziert worden, zuletzt am 5. März. Afriqiyah Airways war bis vorgestern ein Anti-Klischee der afrikanischen Luftfahrt.

Experten schätzen, dass die Wahrscheinlichkeit eines Absturzes in Afrika sechsmal höher ist als im Schnitt der anderen Kontinente. Trotz des geringen Flugverkehrs passiert hier ein Viertel aller Unfälle, und so stammen überproportional viele der 300 Fluglinien auf der Verbotsliste der Europäischen Union (EU) aus Afrika. Das Risiko ist in einigen Ländern beachtlich: Mitarbeiter der Deutschen Botschaft in Luanda (Angola) dürfen zum Beispiel per Dienstanweisung keine Inlandsflüge mit bestimmten Anbietern antreten.

Verallgemeinern aber lässt sich das nicht. In einem Drittel aller afrikanischen Länder - darunter Südafrika, das zur WM bis zu 120 000 zusätzliche Flüge erwartet - hat es seit 15 Jahren keinen schweren Unfall mit Todesopfern mehr gegeben. Besonders in der Einführung der Agentur für Zivilluftfahrt (ACAA) in Namibias Hauptstadt Windhuk im Jahr 2007 sahen Luftfahrtexperten einen Qualitätssprung für die afrikanische Luftindustrie.

Wo das Unglück sich abgespielt hat, ist aber letztlich zweitrangig. Zurück bleiben in diesen Tagen Hunderte Familien, schockiert von der unvorstellbaren Katastrophe. Und ein Junge, der überlebt hat. "Wir verstehen es nicht", sagte seine Großmutter der niederländischen Zeitung "Brabants Dagblat", "es ist wie im Film." Sie meinte damit wohl Rubens Überleben. Und den Verlust ihrer Angehörigen.