Der 36-jährige US-Amerikaner Bode Miller will sich am Sonntag einen letzten Traum erfüllen: Gold in der alpinen Königsdisziplin, der Abfahrt.

Krasnaja Poljana. Bode Miller scherzte in der Sonne am Fuße der olympischen Abfahrtsstrecke. Auch wenn es nach der Bestzeit im ersten Training bei der Testfahrt am Freitag nur zu Rang sechs reichte, stellte der US-Skistar seine Lockerheit zwei Tage vor dem olympischen Abfahrtsspektakel (Sonntag, 8 Uhr) zur Schau. Ein Plausch hier, ein Interview da – dann verließ der Mitfavorit auf Schussfahrtgold an der Seite seiner Ehefrau Morgan gut gelaunt die Strecke. „Mein Ziel ist es gewesen, bis Olympia in Topform zu sein. Das habe ich geschafft“, erklärte der Kombinations-Olympiasieger von Vancouver. Die Ehefrau schulterte den großen Sportrucksack, Miller posierte noch für ein paar Erinnerungsfotos und freute sich schon auf die erste Medaillen-Entscheidungen der Alpinen am Sonntag. „Ich bin bereit“, sagte er.

Vor allem für zwei große Vorhaben trat Miller zur Sotschi-Saison nach 18 Monaten Pause wegen einer Knieverletzung wieder an. Ein Abfahrtssieg in Kitzbühel sollte her und Gold in der Königsdisziplin bei seiner fünften und letzten Olympia-Teilnahme. Das erste Ziel verfehlte er knapp. Auf der Streif nahm der viermalige Weltmeister Rang drei mit glasigen Augen tieftraurig zur Kenntnis. Jetzt will der mit 36 Jahren älteste amerikanische Skirennfahrer – der Schweizer Didier Defago ist mit ebenfalls 36 Jahren der Älteste im Feld – erst recht bei Olympia siegen.

„Ich bin in einer besseren Situation als in Vancouver 2010, damals war ich längst nicht so fit wie jetzt“, erklärte der zweimalige Gesamtweltcupsieger. Um mehr als zehn Kilo leichter meldete sich Miller beim Saisonstart zurück. Drei Podestplätze glückten ihm seitdem, aber kein Sieg. Trotzdem steht Miller zusammen mit Weltmeister Aksel Lund Svindal (Norwegen) an der Spitze der Favoritenschar, zu der seit Freitag auch der trainingsschnellste Österreicher Matthias Mayer zählt.

„Was Aksel und meine Stärken angeht, kommen wir von unterschiedlichen Enden des Spektrums“, glaubt Miller. Svindal sei super konstant und kalkuliere immer das Risiko. „Ich dagegen fahre mit der Absicht, mich zu puschen, so dass das Risiko manchmal in keinem Verhältnis steht zum Preis.“

Die 3495 Meter lange Strecke scheint dabei wie gemacht für den abenteuerlustigen Miller, der die Piste als „die schwerste Strecke der Saison“ einstufte. Entstanden ist die Abfahrt aus dem Nichts. Olympiasieger Bernhard Russi aus der Schweiz, seit den 1980er-Jahren Pistenarchitekt, musste sich mit Karte und Kompass vor sieben Jahren durch das Gestrüpp im Kaukasus schlagen. Stück für Stück entstand bei seinen Besuchen die Abfahrt.

„Das Schlussdrittel ist extrem. Wenn da das Abfahrerherz nicht juchzt, dann ist er kein Abfahrer“, versprach der 64-Jährige. „Ich kannte die Gegend bereits von Kartenmaterial, das mir zur Verfügung gestellt worden war. Ich wusste: Das Gebiet ist nicht unattraktiv.“ Vom Startpunkt „Toboggan“ auf 2045 Metern Höhe über das „Russian Trampoline“ und die „Bear’s brow“ geht es am Sonntag nach dem „Deer Jump“ in etwas mehr als zwei Minuten Fahrtzeit und 1075 Höhenmetern ins Ziel. Im Training gingen Sprünge am „Russian Trampoline“ bis zu 70 Meter weit. „Es war absolut am Limit, weiter sollte es nicht gehen. Einige Jungs waren nahe am Crash“, sagte Svindal, der stets kühl kalkulierende Norweger.

Der sehr anspruchsvolle Kurs, der geradezu zu Fehlern aus Übermut einlädt, ist deshalb eher eine Gefahr für Svindals Hauptkonkurrenten aus den USA. Doch Miller hat sich verändert. Abseits der Piste ist er aber längst nicht mehr der extreme Typ, der kaum eine Gelegenheit ausließ, den Internationalen Skiverband FIS oder das Internationale Olympische Komitee zu kritisieren. Allüren wie 2006, als er viel Zeit in einer Disco von Sestriere verbrachte, gibt es sowieso nicht mehr.

Dass die Auftritte Millers in Russland auch ohne nächtliche Eskapaden medienwirksam sind, liegt an seiner familiären Situation. Die fünfjährige Dacey, ein Kind aus einer früheren Beziehung, lebt bei ihrer Mutter. Nur „eine Zeitlang“, hat Miller einmal erzählt, habe er sich mit Daceys Mama getroffen. Aber, immerhin, sie seien Freunde geblieben. Mit der Mutter von Nate, die er im Internet kennenlernte und noch kürzer ausführte, liegt Miller in einem aufsehenerregenden Sorgerechtsstreit. Der Fall, bei dem öffentlich schmutzige Wäsche gewaschen wird, bestimmt in den USA die Debatte über Rechte von Müttern und Vätern mit. Dass der kleine Nate, der am Schlusstag der Spiele ein Jahr alt wird, von seiner Mutter Sara McKenna Sam genannt wird, ist nur eine von mehreren Kuriositäten in einem Zwist zwischen Dickschädeln.

Miller wird Nate/Sam erst wieder nach den Spielen sehen, dann soll der Prozess Miller/McKenna wiederaufgenommen werden. Wie frei fährt es sich in solch einer Situation Ski? 2010, als er in der Super-Kombination nach dreimal Silber und einmal Bronze bei Olympia endlich Gold gewann, habe er sich mental viel stärker gefühlt, gibt Miller zu. Direkt über den Fall sprechen möchte er nicht. Wann immer er und Ehefrau Morgan sich in den vergangenen Wochen im Weltcup mit Nate zeigten, präsentierten sie sich als Musterfamilie. Jetzt, in Sotschi, hat Miller nur Morgan an seiner Seite.