Die bittere 1:2-Niederlage des FC St. Pauli bei Erzgebirge Aue offenbart zwei grundsätzliche Probleme der Hamburger Mannschaft.

Aue. Fabian Bolls Auge war blutunterlaufen, ein blauer Faden durchzog die darüberliegende, behelfsmäßig getackerte Braue. Neben ihm stand Benedikt Pliquett mit einer markanten Schramme auf der Stirn, und beide schüttelten beim Blick durch das sonnengeflutete Stadion derart häufig den Kopf, dass man sich auch noch Sorgen um ihre Nackenmuskulatur machen musste. Echte Schmerzen verursachten nach dem Abpfiff aber weder des Torwarts Kratzer noch des Mittelfeldspielers Narbe. Das Bild trog: Pliquett, Boll und der FC St. Pauli kamen im Erzgebirge keineswegs mit einem blauen Auge davon. 1:2 hieß es am Ende bei den "Veilchen" in Aue. Trotz 1:0-Führung, trotz eines personell stark geschwächten Gegner, trotz eines Chancenplus, das mehr als eine Grundlage für drei Auswärtspunkte hätte sein müssen.

Der Blick in die Zahlen (siehe Schema und Statistik rechts) erzählte die Geschichte des Spiels, das dennoch nicht das logische Ergebnis ausspuckte. "Es fällt deshalb auch schwer, ein Fazit zu ziehen, weil wir über weite Strecken ein gutes Spiel gemacht haben", sagte André Schubert, "aber es gibt zwei Dinge, die wir der Mannschaft vorwerfen müssen. Das eine: Wir haben den Ball nicht häufiger im Tor untergebracht. Das andere: Wir waren nicht immer diszipliniert genug, haben nicht immer die Ordnung eingehalten. Besonders in der 90. Minute." Zwei spielentscheidende Makel, zwei blaue Augen.

+++ Boll klagt über Taubheitsgefühl im Oberschenkel +++

+++ Kruse allein hätte die drei Punkte klauen können +++

Das eine, die Sache mit dem Toreschießen, wurde im Erzgebirge noch offensichtlicher als bereits in den vergangenen Wochen. War in Duisburg, gegen Braunschweig, in München und gegen Karlsruhe vor allem auch ein quantitativer Mangel festzustellen, bewies die Schubert-Elf nun, dass das Problem längst zur besorgniserregenden Qualitätsfrage geworden ist: Die Chancen werden nicht genutzt, der gegnerische Strafraum ist zur Problemzone geworden. Nach sieben Treffern in sieben Spielen des Jahres 2012 wartet St. Pauli weiter auf ein Stürmertor.

Erneut halfen auch in Aue die Defensivakteure wieder tatkräftig mit, um die Hamburger überhaupt auf der Anzeigetafel erscheinen zu lassen - und diesmal nicht nur die eigenen. Nach einem 70-Meter-Abschlag von Benedikt Pliquett misslang Aues Innenverteidiger Rau der geplante Klärungsversuch, sodass Florian Bruns keine Mühe hatte, den Ball allein vor Torwart Männel mit seinem schwächeren rechten Fuß ins Tor zu schießen (21.). Es bedurfte eines außergewöhnlichen Fauxpas zur Führung, ansonsten blieben die chronischen Ungenauigkeiten und Abstimmungsschwierigkeiten der Auer Hintermannschaft ungestraft. Mit den gesperrten Lachheb und Lebeau sowie des verletzten Paulus hatte FCE-Trainer Karsten Baumann auf gleich drei Stabilisatoren seiner Abwehrformation verzichten müssen. Personalnot, die Raus Startelfpremiere und letztlich das 0:1 ermöglichte, nicht aber den Sieg kostete, da St. Pauli teurer bezahlte. König nutzte eine unübersichtliche Situation in St. Paulis Strafraum zum 1:1 (55.), Kern sorgte in der Nachspielzeit nach Curri-Freistoß per Kopf für das dicke Ende. "Uns fehlt der Glaube, ein Tor zu erzielen, diese Entschlossenheit. Uns ist die Selbstverständlichkeit der Hinrunde abhandengekommen", erkannte Boll. Er selbst und allen voran Max Kruse zielten bei ihren zahlreichen Versuchen zu ungenau und bekamen nie richtig Druck hinter den Ball. Schlenzer statt Vollspann! Die Wahl beim Abschluss charakterisiert das gesamte Auftreten der Mannschaft.

Das andere, die Sache mit der fehlenden Disziplin, trat dann beim 1:2 zutage. Inmitten der lilafarbenen Glückseligkeit auf dem Platz und auf den Rängen stand Marius Ebbers am Anstoßpunkt - und damit am Pranger. Von außen schimpfte Schubert mit hochrotem Kopf auf den eingewechselten Stürmer ein, im eigenen Strafraum deuteten Mitspieler kopfschüttelnd in Richtung des Blondschopfs. "Nein, es standen nicht alle da, wo sie stehen sollten", bestätigte Pliquett ohne Namen zu nennen, doch es war offensichtlich. Der 34-Jährige hatte auf den Rückweg verzichtet und somit beste Sicht, wie Kern zum Auer Sieg einköpfte. Statt sich für ihre Dominanz zu belohnen, bestrafte sich St. Pauli devot mit dem zweiten Gegentreffer.

"Wir haben wie schon im Hinspiel eine sehr gute Ausgangsposition verspielt", bilanzierte Helmut Schulte nüchtern. St. Paulis Sportchef bezog sich auf die insgesamt 180 Minuten gegen Aue, doch nicht wenige der mehr als 2000 St.-Pauli-Fans unter den 11 500 Zuschauern befürchteten gravierendere, weitreichendere Konsequenzen. "Wenn du weiter oben dranbleiben willst, musst du Spiele wie diese gewinnen", lamentierte Kruse, "so etwas darf einer Mannschaft mit unserer Qualität nicht passieren." Die Niederlage in Aue, sie bedeutet angesichts acht ausstehender Partien noch nicht den Knock-out im Aufstiegsrennen, ein weiteres blaues Auge aber ist bei schon zwei gefärbten nicht mehr möglich.