Ex-St.-Pauli-Trainer Holger Stanislawski wechselte mit großen Hoffnungen nach Hoffenheim. Nach nur sieben Monaten musste er wieder gehen.

Sinsheim. Der Abschied fand im ganz kleinen Rahmen statt. Gestern Vormittag informierte Ernst Tanner, Manager des Bundesliga-Achten 1899 Hoffenheim, seinen Trainer Holger Stanislawski über dessen Demission. Der Klub schob alsbald eine eilig zusammengezimmerte Presseerklärung nach. Man schätze Stanislawski "als Menschen und fachkundigen Trainer". Dennoch sei es besser gewesen, "die Zusammenarbeit im Interesse aller Beteiligten zu beenden". Am heutigen Freitag werde man den Nachfolger präsentieren - aller Voraussicht nach Markus Babbel, jüngst entlassen bei Hertha BSC.

Vor 278 Tagen, am 7. Mai 2011, hatte Stanislawski einen Abschied der ganz anderen Art erlebt, einen der emotionalsten in 49 Jahren Bundesliga. Zur Musik von Tomte drehte er eine Ehrenrunde am Millerntor, verneigte sich vor jeder Tribüne wie ein Zirkusdirektor bei seiner allerletzten Vorstellung, die Hand auf das Herz gelegt. Und niemanden im Stadion schien es mehr zu interessieren, dass sich der FC St. Pauli soeben mit einem blamablen 1:8 aus der Bundesliga verabschiedet hatte. Es war das Finale einer wochenlangen Abschiedstournee, die mit einer denkwürdigen Pressekonferenz begonnen hatte. In einem 37-minütigen Monolog hatte Stanislawski seinen Abschied verkündet, mit tränenerstrickter Stimme erklärt: "Der Totenkopf wird immer in meinem Herzen bleiben."

Im Entertainment-Geschäft namens Bundesliga können solche Sätze schnell die Grenze zur Peinlichkeit schrammen. Aber nicht bei einem wie ihn. Einem echten Hamburger Jung, vom Legenden-Status im Klub vergleichbar mit "Uns Uwe" Seeler beim Rivalen HSV. Aufgewachsen in Bramfeld, dann Spieler beim HSV, Barsbütteler SV, SV Concordia, schließlich St. Pauli, die Seele des Vereins. Spieler, Sportchef, Vizepräsident und Trainer. Bodenständig, geheiratet hat er 1994 im Condor-Klubheim am Berner Heerweg. Als er bei seinem Abschied über den Tod seiner Mutter spricht, heulen sogar die hartgesottensten Reporter.

Diesmal gab es keine Tränen. Wen soll der Streifen "Out of Hoffenheim" mit den Hauptdarstellern Holger Stanislawski und Mäzen Dietmar Hopp, milliardenschwerer Gründer des Software-Konzerns SAP, auch groß berühren? Anders als in den 18 St.-Stanislawski-Jahren mit Auf- und Abstiegen, mit Existenzkämpfen, großen Triumphen und bitteren Niederlagen gab es in sieben Monaten Hoffenheim eben auch keine besonders emotionalen Momente. Sondern höchstens ein paar Niederlagen zu viel.

Und doch bedeutet der gestrige Tag nicht nur aus Hamburger Sicht mehr als nur die 340. Trainer-Entlassung der Bundesliga-Historie. In Hoffenheim scheiterte ein gewagtes Experiment. In Kurzform sollte es so funktionieren: Man nehme einen hochemotionalen und fachlich versierten Trainer, der fortan eine junge, ehrgeizige Mannschaft aufbaut und mit begeisterndem Fußball mal eben das verhasste Plastik-Image des Retortenklubs ausradiert. Fertig ist das neue Hoffenheim. Sympathisch, offensiv, gut.

Und am Anfang sah ja auch vieles danach aus, als könne der riskante Plan aufgehen. Hopp, der geschätzte 250 Millionen Euro in den Marsch seines Klubs durch alle Fußball-Institutionen von der Kreisliga in die Bundesliga pumpte, freute sich wie Bolle über seinen neuen Trainer mit Kapuzenjacke und Mütze. Und Stanislawski führte mit leuchtenden Augen Besucher aus der Hamburger Heimat durch sein neues Reich, das Hopp für 25 Millionen Euro in die Provinz gerammt hatte. Mit Unterwassermassagen, Schwimmbad, Rehazentrum, Kunstrasenplätzen und medizinischem Hightech vom Feinsten, inklusive einer Dusche, die den Stoffwechsel anregen soll.

Ein Paradies für einen wie Stanislawski, der beim FC St. Pauli mitunter damit leben musste, dass Maulwürfe den Trainingsplatz praktisch unbespielbar machten. Ganz zu schweigen von den ständigen Kämpfen gegen die Insolvenz: "2004 hatten wir doch nicht einmal mehr Geld für die Müllabfuhr." In Hoffenheim dagegen röntgt der fest angestellte Vereinsarzt selbstverständlich vor Ort.

Kiez trifft Kaff, Arm trifft Reich, Fan-Seele trifft Retorte - im Fußball kann es kaum größere Gegensätze geben als zwischen St. Pauli und 1899 Hoffenheim. Stanislawski hat sehr wohl geahnt, wie schwierig es werden könnte. Viele hatten ihn gewarnt, dass sich ein echter Hamburger Jung nicht mal eben in den Kraichgau verpflanzen lässt.

Sein Rezept war einfach. Auch in Hoffenheim wollte er sich treu bleiben, weiter den Stani geben. Etwa den "Brösel", also den Pannemann, den Deppen, im Team ausspielen, wie er es beim FC St. Pauli immer gemacht hat. Wer dort in einer vorgegebenen Disziplin, etwa möglichst oft im Training die Latte zu treffen, versagte, musste den Rest der Trainingswoche ein rosa Trikot mit der Aufschrift "Brösel" überstreifen.

In Hoffenheim war das "Brösel"-Trikot dann lila - und blieb doch ein seltsamer Fremdkörper. Rituale sind eben auch im Fußball nicht so einfach übertragbar. Beim FC St. Pauli führte Stanislawski eine Mannschaft mit eher durchschnittlichen Spielern, die vom Teamgedanken lebte. Mit gemeinsamem Grillen im Stadtpark, mit Kiez-Besuchen und Mannschaftsfahrt nach Malle am Saisonende. Thekenromantik mitten im harten Leistungsbusiness. In Hoffenheim dagegen kicken hoch dotierte Stars, Ich-AGs, vor allem auf den eigenen Marktwert bedacht.

Dennoch griff Stanislawski auch bei den ersten Rückschlägen wieder in den Baukasten der Reihe "System Stani". Er keilte öffentlich gegen seine Spieler, monierte mangelnde Disziplin. Beim FC St. Pauli hat er das ja auch immer so gemacht, wenn er zu viel Selbstzufriedenheit spürte. Im März 2010, als nach drei Niederlagen in Folge die Mission Wiederaufstieg in Gefahr geriet, bestellte er die Reporter ganz bewusst zur Geschäftsstelle. Sie sollten den Bußgang seiner Spieler nach vollzogener Strafpredigt live und in Farbe miterleben. Bei der Pressekonferenz faltete er dann die Spieler der Reihe nach zusammen, vergab Noten von "sechs bis bundesligatauglich". Das inszenierte Spektakel führte zum Ziel: Die an ihrer Ehre gepackten Spieler kämpften wieder - und stiegen schließlich auf.

Womöglich hat Stanislawski einen simplen Faktor übersehen, als er auch in Hoffenheim mit bewusst harscher Kritik sein Team provozieren wollte: Eine langjährige Ehe wie zwischen Stanislawski und St. Pauli verträgt auch mal deutliche Worte. Eine noch ganz frische Beziehung kann man dagegen sehr schnell zu Tode attackieren.

Von entspannten Flitterwochen konnte in Hoffenheim ohnehin nie die Rede sein. Dafür ist der Brautvater wohl auch zu kompliziert. Dietmar Hopp wollte zwar aus seiner gediegenen Loge in der SAP-Arena in Sinsheim endlich engagierteren Fußball sehen, aber bitte schön doch deutlich günstiger. Um mindestens zwölf Millionen Euro sollte der Gehaltsetat runter. Stanislawski setzte die Marschorder zügig um und trennte sich von Großverdienern. Zur neuen Saison wollte Stanislawski dann sein Team zusammenbauen, in erster Linie mit hochkarätigen jungen deutschen Spielern. Doch eine solch schwierige Operation braucht vor allem eines: Geduld. "Da darf man nicht beim ersten Gegenwind umfallen", sagt Helmut Schulte, Sportchef des FC St. Pauli.

Auf diesen Rückhalt konnte Stanislawski beim FC St. Pauli immer zählen. Wer attackiert schon eine Ikone, einen ehemaligen Spieler, der sich im Dienst für den FC St. Pauli vom Nasenbein über die Ellbogen bis zu den Bändern in den Sprunggelenken so ziemlich alles gebrochen und gerissen hat?

In Hoffenheim interessierten solche Helden-Geschichten von anno dazumal - inklusive Rissen beider Netzhäute - jedoch herzlich wenig. Sicher, die Putzfrauen machte Stanislawski mit seiner hemdsärmeligen Art beim gemeinsamen Morgenkaffee schnell zu Mitgliedern seines persönlichen Fanklubs. Doch andere verstanden diesen Hamburger Jungen einfach nicht. Ganz zu Beginn seiner Hoffenheim-Zeit beschwerte er sich mal über das Vogelgezwitscher über dem Trainingsgelände. Man möge ihm ein Luftgewehr besorgen. Beim FC St. Pauli hätten sie sich ausgeschüttet und nur gedacht, ist eben ein echter Scherzkeks, unser Stani. In Hoffenheim telefonierten dagegen servile Mitarbeiter Jagdgeschäfte ab, um ihrem Stanislawski das gewünschte Gewehr zu besorgen.

Vor allem Mäzen Hopp verlor angesichts nur eines Sieges aus zehn Spielen zunehmend den Spaß an seinem sportiven Lebenswerk. Vergangene Woche senkte er dann öffentlich den Daumen, indem er eine "fehlende taktische Linie" bekrittelte. Schon vor Wochen hatte er gegenüber Vertrauten über ein mögliches vorzeitiges Ende seiner Mission orakelt. Der Rauswurf mit seinem kompletten Trainerteam Andre Trulsen und Klaus-Peter Nemet wird ihn daher emotional kaum so berührt haben wie der Abschied vom Millerntor.

Aus der Heimat kamen dennoch die ersten Kondolenz-Adressen. "Dass man Geduld mit einem jungen Trainer haben muss, hätte den Verantwortlichen klar sein müssen. Eine Trainerentlassung auf Platz acht, da ist man schon sprachlos", sagt Sportchef Schulte, in gemeinsamen Pauli-Tagen nicht immer ein Freund Stanislawskis. Sein ehemaliger Spieler Fabian Boll hofft, "dass sich Stani gut erholt und dann einen adäquaten Ersatz findet".

Zeit haben wird er jetzt, zum ersten Mal in seiner Trainerkarriere ist der Beste seines Ausbildungsjahrgangs ein Übungsleiter im Wartestand.

Natürlich kommt er jetzt zurück. Zurück in seine Stadt, seine Heimat: "Über die Elbbrücken zu fahren, vom Hafen begrüßt zu werden, die Lichter zu sehen, das ist unglaublich schön." Wie früher wird er seinen Kaffee an der Aral-Tanke an der Habichtstraße schlürfen, ausgedehnte Spaziergänge mit Frau Michelle unternehmen.

"Ein Seemann kommt immer zurück", hat Stanislawski im Abendblatt gesagt, als sein Wechsel nach Hoffenheim perfekt war. Dass sein Törn nur sieben Monate dauern würde, damit war allerdings nicht zu rechnen.