Der HSV gehört als einziger Verein ununterbrochen zur Bundesliga. Doch nach der fünften Niederlage wächst die Sorge um den Vorzeigeverein.

Hamburg. Es gab nichts mehr zu besprechen, nichts mitzuteilen. Sekunden nach dem Abpfiff flüchtete Michael Oenning, der Trainer des Hamburger SV, in die Katakomben. Keine drei Minuten später waren auch die letzten Spieler mit hängenden Schultern vom Platz geschlichen. In der mit 55 797 Zuschauern gut gefüllten Arena breitete sich angstdurchtränkte Stille aus. Den entsetzten Anhängern schien die Kraft zu fehlen, ihre Enttäuschung zu artikulieren, fast lethargisch verließen sie das Stadion. Wieder verloren. Zum fünften Mal im sechsten Spiel dieser Fußball-Bundesligasaison. Nicht, weil das Glück fehlte und dann noch Pech dazukam. Sondern völlig verdient. In der Nordwest-Ecke lief die Uhr, die die Zugehörigkeit zur Bundesliga anzeigt: 48 Jahre, 25 Tage, 21 Minuten und 18 Sekunden, 19, 20, 21 ... - wie ein Mahnmal.

2003, anlässlich der 40-jährigen Zugehörigkeit zur höchsten Spielklasse, war es aus dem Ei geschlüpft, das neue HSV-Maskottchen. Die bisherige Hummel hatte ausgedient, ein süßer Plüsch-Dinosaurier zum Knuddeln für die Kleinen stand seitdem für das Einzigartige. Seit dem Zusammenschluss der drei Vereine SC Germania von 1887, Hamburger SV von 88 und dem FC Falke von 1906 zum Hamburger Sport-Verein e.V. hatte der Klub ab 1919 immer in der höchsten Klasse gespielt. Der FC Bayern München beispielsweise ist auch nie abgestiegen, gehörte aber nicht zu den Gründungsklubs der Bundesliga 1963. Schon oft schwebte der HSV in akuter Abstiegsgefahr und konnte sich stets retten. Spätestens nach dem 0:1 gegen Borussia Mönchengladbach jedoch machte sich bei den meisten Fans die Erkenntnis breit, dass dieser stolze Hamburger Verein seinen wertvollsten Schatz auf ewig zu verlieren droht: seine Erstklassigkeit. Der HSV-Dino Hermann, benannt nach dem früheren Masseur Hermann Rieger, will es augenscheinlich seinen Artgenossen nachmachen und aussterben. Und damit ein Stück Hamburg.

***Bundesliga 1963/64***

***Die großen Krisen des HSV***

Die Symbiose zwischen der Stadt und dem Verein sucht ihresgleichen. "Hamburg, meine Perle, du wunderschöne Stadt, du bist mein Zuhaus, du bist mein Leben, du bist die Stadt, auf die ich kann", singt Kultbarde Lotto King Karl stets vor den Heimspielen zusammen mit Zehntausenden. Rot und Weiß waren die Trikotfarben, die damals zu Ehren der Stadt gewählt wurden. Das auf der ganzen Welt berühmte, 1919 entworfene und nie veränderte Logo mit der schwarz-weißen Raute vor blauem Hintergrund erinnert an ein Reederei-Wappen und den Hafen, an Abenteuer, an Weltoffenheit. Der HSV ist bis heute nicht nur ein Sportverein, sondern ein Stück Hamburger Kultur- und Sozialgeschichte. Ein Fixpunkt für Menschen, die eine Lebensphilosophie suchen oder Halt in einer immer haltloseren Gesellschaft. Der HSV steht für gemeinschaftlich erlebten Rausch, für Leidenschaft, ob früher am Rothenbaum oder später im Volkspark. "Nur der HSV", rufen die Fans - wer schafft es in unserer Gesellschaft außer dem HSV und anderen Traditionsklubs noch, die Massen zu vereinen?

Was würde ein Abstieg aus der Bundesliga daran ändern? Alles. Natürlich könnte der HSV nach einer Saison den sofortigen Wiederaufstieg schaffen und die ganze Angelegenheit wie einen lästigen Betriebsunfall aussehen lassen, der es aber eben nicht ist. Beim langen Warten auf einen Titel seit der letzten deutschen Meisterschaft 1983 und dem letzten DFB-Pokalsieg 1987 haben sich die Anhänger stets mit diesem einen Alleinstellungsmerkmal trösten können. Selbst wenn die Bayern im Süden noch so viele Triumphe auf ihrem Briefkopf eintragen würden, dieses Merkmal könnten sie sich für kein Geld der Welt kaufen. Was Trainer Oenning und seine Mannschaft deshalb zu verspielen drohen, ist nichts anderes als der Markenkern des Vereins, die DNA. Der HSV wäre nur noch ein normaler, austauschbarer Fußballklub. Eine schlechte Kopie des großen Klubs von einst.

Natürlich hätte ein Absturz des HSV auch wirtschaftliche Folgen für die Stadt. Längst generiert der Verein direkt oder indirekt nach jüngsten Berechnungen fast 100 Millionen Euro, indem er Arbeitsplätze schafft und Geld in die Hansestadt spült. So dient der HSV Touristen als eine Hauptattraktion, die Hamburg als Ausflugsziel buchen. Doch die Hamburger treibt die Sorge um ihren HSV viel mehr deshalb um, weil sich der sportliche Misserfolg direkt auf das Image der Stadt niederschlägt. "Der Hamburger Weg" heißt eine Sponsoring-Initiative des Klubs mit der Stadt, nur ein Beispiel für die gegenseitige Verzahnung. Zeigt der Weg in die Zweite Liga, leiden die Stadt und deren Einwohner mit - außer denen, deren Herz braun-weiß schlägt. Sollte der FC St. Pauli in der Zweiten Bundesliga nach dem 34. Spieltag Platz drei erreichen und der HSV auf Position 16 stehen, käme es zur Relegation, also zu zwei Entscheidungsspielen im Kampf um die Erste Liga. Würde ausgerechnet der Lokalrivale dem HSV den Nimbus der Unabsteigbarkeit nehmen, wäre dies der schlimmste anzunehmende Albtraum.

Die Ironie des Schicksals will es, dass ausgerechnet jetzt, in schwerer See, mit Carl-Edgar Jarchow ein echter Hanseat den Verein als Vorsitzender führt, der seit seiner Kindheit dem HSV stark verbunden ist. Vorgänger Bernd Hoffmann galt dagegen immer als gebürtiger Leverkusener. Die Schmach, für diesen Niedergang verantwortlich gemacht werden zu können, entfacht für Jarchow einen fast unmenschlichen Druck. Viel Hamburg ist ansonsten nicht mehr übrig geblieben, vor allem im Team. Mit Tunay Torun, Maxim Choupo-Moting und Piotr Trochowski wurden im Sommer die letzten Eigengewächse abgegeben.

"Alles neu und alles anders", so ähnlich lautete die Parole nach dem Ende der Ära Hoffmann im März 2011. Nach nur einem von 18 möglichen Punkten und dem Festigen des letzten Tabellenplatzes steckt die Anhängerschaft in einer tiefen Glaubenskrise: Wer soll den Abwärtstrend stoppen?

Der Vorstand? Jarchow hat noch nie einen Fußballklub geführt, ihm fehlen Erfahrung und Instrumente im Kampf um den Klassenerhalt. Der im Sommer vom FC Chelsea London verpflichtete Sportdirektor Frank Arnesen kannte die Bundesliga nur aus dem Fernsehen und blieb bislang den Beweis seines guten Netzwerks im europäischen Fußball schuldig, indem er sich, was Neuzugänge betraf, hauptsächlich bei seinem ehemaligen Klub bediente. Der Aufsichtsrat? Dem dauerhaft zerstrittenen Gremium fehlt es an sportlichem Sachverstand, um in der Misere die notwendigen Ratschläge zu geben. Erschwerend für die Führung kommt hinzu, dass nach den Goldgräberzeiten mit jährlich neuen Umsatzrekorden die Kassen leer sind und Geld für Sofortmaßnahmen fehlt.

Der Trainer? Oenning fehlt es nicht nur an Punkten, sondern bislang auch an Ausstrahlung, die Zuversicht schafft. Vor allem aber fehlt eine Handschrift, ein Konzept, das er konsequent durchzieht und mit dem er den durch den langen Misserfolg - saisonübergreifend 13 sieglose Spiele - verunsicherten Profis Handlungsmöglichkeiten aufzeigt. Die Mannschaft? 2009 stand das Team noch im Halbfinale der Europa League, heute sind die Profis zu einem jämmerlichen Ensemble verkommen, das kaum noch als Einheit zu bezeichnen ist. Aus dem angestrebten Umbruch im Sommer mit 17 Abgängen und 16 Zugängen (inklusive Leihspieler) wurde bisher ein Abbruch. Nach dem Weggang etlicher Führungsspieler fehlt es an Typen, die Verantwortung übernehmen, und die talentierten, aber unerfahrenen Fußballer leiten.

Das Bildnis vom einst so mächtigen Dino ist nur noch Fassade. Viel ist entstanden in den vergangenen Jahren beim HSV. Ein neues, modernes und familienkompatibles Stadion, in dem selbst dürftige sportliche Unterhaltung noch ganz passabel aussieht, weil das Gruppenerlebnis und die Show mit Lotto King Karl so viel Spaß machen. Ein hochwertiges HSV-Museum, beeindruckende Fanshops und Fußballschulen für Jugendliche. Doch das Kerngeschäft beim HSV wurde vernachlässigt, der Motor des ganzen Klubs nicht liebevoll genug gepflegt: die Mannschaft und ihr Unterbau, die Nachwuchsabteilung. Je enger auch die Hamburger zusammenrückten, um ihren taumelnden HSV-Dino zu unterstützen und wieder auf die Beine zu helfen, desto weiter entfernten sich die Handlungsträger im Verein voneinander. Solch eine Gemengelage von Inkompetenz und fehlendem Teamwork hat schon bei anderen Fußballvereinen zum Absturz geführt.

Nicht weit entfernt vom Fußballtempel liegt der 2008 eröffnete HSV-Friedhof. Eine nett gemeinte Idee, um die ewige Verbundenheit zum Verein bis ins Jenseits demonstrieren zu können. Nur drei Menschen haben bislang dort ihre letzte Ruhe gefunden. Dass hier bald auch ein plüschiges Kostüm begraben werden muss, ist für HSV-Anhänger eine Horrorvision, eigentlich unmöglich. Und es darf auch nicht passieren. Auch wenn derzeit niemand weiß, wie es verhindert werden soll.