Vorsänger Johannes Liebnau spricht über seine Angst, Ultras, einen “verlogenen DFB“ und warum er dem HSV immer die Treue halten wird.

Hamburg. Sein erstes Spiel - der HSV gewann 1:0 gegen Gladbach - sah Johannes "Jojo" Liebnau am 4. April 1992. Es war Liebe auf den ersten Blick. Seitdem hat der mittlerweile 29-jährige Vorsänger des HSV-Fanklubs Chosen Few kaum noch ein Pflichtspiel verpasst, zuletzt vor fast sieben Jahren. Und natürlich wird er auch beim Heimspiel gegen Leverkusen (So., 17.30 Uhr/Sky und im Abendblatt-Liveticker) wieder die Kommandos geben. Dass aber ausgerechnet so jemand, der jedes Wochenende 90 Minuten lang schreit, sich so lange bitten lässt, 90 Minuten lang zu reden, war doch eine Überraschung.

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Hamburger Abendblatt: Herr Liebnau, wir mussten Sie lange zu diesem Interview überreden. Warum eigentlich?

Johannes Liebnau: Das hat zwei Gründe: Zum einen bin ich aus meinen Erfahrungen aus dem Wahlkampf zur Aufsichtsratswahl 2009, wo ich von mehreren Zeitungen im Block beobachtet wurde, ein gebranntes Kind. Zum anderen stört mich, dass viele Medien dazu tendieren, alles zu sensationalisieren und über einen Kamm zu scheren.

Dann lassen Sie uns spezifizieren. Sie wollen nicht als "Fan-Chef" tituliert werden, aber wer oder was sind Sie eigentlich? Vorsänger? Mitglied? Ultra?

Liebnau: Platt gesagt bin ich ein HSVer. Ich bin zwar auch der Vorsänger, aber wenn ich das nicht mache, dann macht das ein anderer. Ich bin kein Freund von Kategorisierungen. Aber natürlich bin ich ein Mitglied und wenn Sie wollen auch Ultra.

Was sind Ultras?

Liebnau: Jeder definiert das für sich anders. Für viele junge Leute heißt es, dass man sich mit viel positiver Energie für seine Leidenschaft und seine Ideale einsetzt. Ultras sind extrem, nehmen nicht alles so einfach hin, sondern hinterfragen auch bestimmte Vorgänge.

Könnte man auch ein FDP-Ultra sein?

Liebnau: Theoretisch wahrscheinlich schon, auch wenn mir dieser Gedanke widerstrebt. Praktisch kommen Ultras dann aber doch aus der Fußballszene, ganz ursprünglich aus Italien.

Haben Ultras eine grundsätzliche Haltung zu bestimmten Themen wie Pyrotechnik, Preispolitik oder Gewalt?

Liebnau: Es gibt bestimmte Tendenzen, über die man sich häufig einig ist, aber natürlich hat jeder seine eigene Meinung. Ein Ultra muss beispielsweise kein Fan von Pyrotechnik sein. Mir persönlich ist die Identifikation mit dem Verein am wichtigsten.

Müssen sich Ultras, wenn sie tatsächlich eine relevante Rolle spielen wollen, nicht intensiver mit Verfehlungen anderer Ultras auseinandersetzen?

Liebnau: Wir, also unsere Gruppe Chosen Few, beziehen sehr häufig sehr stark Stellung, nur bekommen das die Medien nicht so häufig mit. Wir machen das intern oder auf unserer Homepage. Aber die Öffentlichkeit interessiert nun mal mehr, wenn angebliche Kölner Ultras einen Gladbacher Fanbus überfallen, als wenn 100 mutmaßliche Ultras zum HSV-Training kommen, um die Mannschaft zusätzlich im Abstiegskampf zu motivieren.

Der Überfall der Kölner "Anhänger" auf einen Gladbacher Fanbus hat bundesweites Entsetzen nach sich gezogen, darüber muss man berichten.

Liebnau: Natürlich muss man das, aber man sollte eben nicht nur über negative Fan-Themen berichten. Das gilt genauso für Ausschreitungen in Stadien, über die sehr inflationär berichtet wird. Wir befinden uns in einer Gesellschaft, in der man sehr gerne anprangert. Mögliche Lösungswege scheinen oft zweitrangig. Die Diskussion, wie man gegen "Fans" vorgeht, die sich möglicherweise danebenbenommen haben, wird häufig leider sehr unsachlich geführt.

Sie meinen den DFB, oder?

Liebnau: Wenn man sich mal zu Gemüte führt, wie der DFB als vermeintlich oberste Instanz mit aus seiner Sicht Problemfällen umgeht, dann kann man das nur als Steinzeitpädagogik bezeichnen. Es wird nicht kommuniziert, sondern die Repressionskeule geschwungen. Besser wird dadurch gar nichts.

Wie hätte der DFB denn Ihrer Meinung nach reagieren sollen, als mehrere Hundert Dresdner "Fans" zu Anfang der Saison in Dortmund randalierten?

Liebnau: Die erste Frage muss doch lauten, warum so etwas überhaupt passiert. Und die zweite Frage, wie man präventiv dagegen vorgehen kann, damit derartiges nicht noch mal passiert. Und drittens sollte man fragen, ob die vom DFB verhängten Strafen dazu geführt haben, dass danach alles besser wurde. Zunächst wurde Dresden aus dem Pokal ausgeschlossen, wogegen der Klub erfolgreich geklagt hat. Ganz ehrlich: Wo sind denn da die Relationen?

Dementsprechend müssten Sie selbst als bekennender HSV-Ultra die DFB-Entscheidung, St. Pauli doch nicht mit einem Teilausschluss des Publikums wegen des Kassenrollenwurfs zu belegen, begrüßen.

Liebnau: Das tue ich. Der DFB und die DFL sind ein verlogener Haufen. Jeder normale Mensch, nicht nur so extreme Fans wie ich, haben gesehen, dass das erste Urteil völlig unangemessen war. Nur mal zum Vergleich: Die Beschallung in Hoffenheim, bei der bewusst Dortmunder Anhänger geschädigt wurden, wurde vom DFB damals nicht sanktioniert. Beim Kassenrollenwurf, bei dem niemand absichtlich getroffen wurde, sollte mit einem Teilausschluss bestraft werden. Diese Bestrafung mit zweierlei Maß verstehe, wer will.

Richtet der HSV-Vorstand nicht auch manchmal mit zweierlei Maß?

Liebnau: Leider. Die Kollektivbestrafung der gesamten Nordtribüne nach den Vorkommnissen in Block 25A, wo wiederholt mit Pyro gezündelt wurde, war so ein Fall. Kollektivstrafen, die von Vereinen und Verbänden immer wieder ausgesprochen werden, sieht unser Rechtssystem in dieser Form überhaupt nicht vor. Ich kann mich mit derartigen Entscheidungen jedenfalls in keiner Weise identifizieren.

Sie haben Identifikation ja bereits zu Anfang des Interviews als essenziell eingestuft. Identifizieren sich die Spieler denn überhaupt noch mit dem Verein?

Liebnau: Im Vergleich zur letzten Saison identifizieren sie sich viel mehr mit dem HSV und auch mit der aktuellen Situation. In Kaiserslautern konnte man in ihren Blicken Erleichterung, aber auch Identifikation erkennen.

Sie und andere Fans sind im ständigen Dialog mit Profis wie Heiko Westermann und Dennis Aogo. Worüber reden Sie?

Liebnau: Zunächst einmal ist wichtig, dass wir überhaupt wieder im Dialog sind. Noch vor einem Jahr wurde überhaupt nicht miteinander geredet. Wir hatten den Eindruck, dass die Spieler darauf überhaupt keinen Bock hatten.

Wie kam es zur Annäherung?

Liebnau: Nach der Niederlage gegen St. Pauli in der vergangenen Saison, die jedem Fan sehr wehgetan hat, bat uns der alte Mannschaftsrat um Frank Rost zum Gespräch in die Kabine. Wir haben uns damals gegenseitig die Meinung gesagt, die generelle Bereitschaft zum regelmäßigen Gedankenaustausch ist daraus gewachsen.

Gibt es einen konkreten Wunsch der Fans an die Spieler?

Liebnau: Der Wunsch ist ganz simpel. Wir wollen, dass die Spieler sich zum Verein bekennen, solange sie für diesen Verein arbeiten, und dass sie alles für ihren, unseren Verein geben. Das Gleiche gilt auch für die Fans: Solange die Spieler alles geben, müssen auch wir Fans alles geben. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mitentscheidend im Kampf gegen den Abstieg sind.

Haben Sie Angst vor dem Abstieg?

Liebnau: Vor dem Spiel gegen Kaiserslautern hatte ich zum ersten Mal richtig Angst. Ich hatte eine Woche lang die Horrorszenarien vor Augen. Nach dem Sieg wurde aus dieser Angst dann Respekt für die Situation. Ich glaube, dass es noch nicht vorbei ist.

Was passiert, wenn es den HSV in dieser Saison dennoch erwischt?

Liebnau: Für mich würde erst mal eine Welt zusammenbrechen, aber natürlich wäre ich auch in der Zweiten Liga mit dabei. Ich kenne niemanden, der seinem Verein nach einem Abstieg den Rücken kehren würde.

Wer hat aus Ihrer Sicht Schuld an der sportlichen Misere dieser Saison?

Liebnau: Es gibt nicht den einen Schuldigen. Ich denke, dass es eine ganz normale Entwicklung ist, dass wir nun auch mal ein Tal durchlaufen, nachdem wir ziemlich lange ziemlich weit oben standen. Dabei darf man aber auch nicht vergessen, dass wir über die Jahre durch sporadische Europapokalerfolge immer wieder geblendet wurden.

Wie meinen Sie das?

Liebnau: Es ist ja nun kein großes Geheimnis mehr, dass der Umbruch aufgrund der fehlenden Kohle alternativlos war. Der Verein hatte einfach kein Geld mehr, um fertige Stars zu kaufen. Frank Arnesen musste stattdessen halb fertige Talente kaufen.

Einige Fans werfen den Supporters, also auch Ihnen, eine Mitschuld an der Misere vor, da deren Machtkampf mit Ex-Chef Bernd Hoffmann den Verein gelähmt hat.

Liebnau: Das Thema ist hinlänglich besprochen. Aber noch mal: Ein Blick in die Bilanzen reicht, dass eben nicht nur im besten Interesse des Vereins gearbeitet wurde. Es wurde eine Nach-mir-die-Sintflut-Politik betrieben, die uns fast in den Ruin getrieben hätte.

Der HSV ist nicht der einzige Klub, der durch eine risikoreiche Transferpolitik sportlichen Erfolg erzielen wollte.

Liebnau: Das macht es nicht besser. Ich will jedenfalls nicht wie Schalke 04 auf Platz drei stehen, dabei aber Sorgen haben müssen, dass der Verein irgendwann bankrott ist. Wie jeder Fan will auch ich sportlichen Erfolg - aber nicht um jeden Preis.

Anders als bei Schalke haben die HSV-Mitglieder aber sehr viel Macht. Können Fans auch zu viel Macht haben?

Liebnau: Nein. Ein Mitglied wird als Fan geboren und bleibt bis zum Tod Fan. Da frage ich mich, warum und wie dieser Fan, der mit so großer Leidenschaft dabei ist, zu viel Macht haben kann.

Weil ein Großteil der Fans Laien im großen Geschäft Profifußball sind.

Liebnau: Warum sollen unter 70 000 Mitgliedern nicht auch Leute mit Ahnung dabei sein?

Die könnten doch aber auch in einer anderen Struktur ihr Fachwissen einfließen lassen. Beim HSV hat die mutmaßlich ahnungslose Masse mehr Macht als die einzelne Fachkraft.

Liebnau: Das sehe ich anders. In Deutschland haben Fans ein Imageproblem. Auf internationalen Fan-Kongressen werden die Strukturen des HSV dagegen als vorbildlich gelobt.

Was ist Ihre Utopie vom HSV? Eine Mannschaft von elf Hamburgern, die im Uwe-Seeler-Stadion um den Einzug in die Champions League spielt?

Liebnau: So etwas habe ich nie gefordert. Mir ist wichtig, dass ich mir eine Eintrittskarte kaufen kann und dass ich mich mit dem, was auf und abseits des Rasens in diesem Verein passiert, identifizieren kann. Und natürlich will ich auch weiterhin als einziger Verein der Liga nicht absteigen. Und das werden wir auch nicht!