Beim 1:3 gegen Bremen schlägt sich der HSV durch schlimme Fehler in der Abwehr selbst. Guerrero: “Nicht Bremen hat das Spiel gewonnen“.

Hamburg. Der wuchtige Abschlag von Tim Wiese flog lange, sehr lange durch die Luft. Die 86. Minute eines umkämpften Nordderbys zwischen dem HSV und Bremen lief, als sich Heiko Westermann und Slobodan Rajkovic nicht einigen konnten, wer den hohen heranrauschenden Ball klären sollte. "Ich gehe zu Boban (Rajkovic, d. Red.) hin, sehe ihn in letzter Sekunde, denke, er sieht mich nicht und bleibt weg. Das Gleiche hat er auch gedacht", schilderte Westermann die Aktion. Am Ende rauschte der Ball zwischen den Innenverteidigern durch zu Marko Arnautovic, der zum 3:1 für Werder einschießen konnte. Eine Szene, wie gemalt, um den Verlauf des 96. Bundesliga-Vergleichs der Nordklubs zu charakterisieren. "Nicht Bremen hat das Spiel gewonnen", sagte Paolo Guerrero, "wir haben das Spiel verloren."

+++Schwertransporter Rajkovic kam nicht auf Touren+++

+++Dem HSV droht ein finanzielles Nachspiel+++

Auch die beiden Treffer der Gäste durch Marko Marin (9.) und Tom Trybull (45.) gehörten zur Kategorie "vermeidbar". Mitten in die gute Startphase des HSV hinein leistete sich Tomas Rincon vor dem 0:1 einen überflüssigen Ballverlust, genau wie Marcell Jansen vor der Ecke, die zum 0:2 führte. Nicht zu vergessen Dennis Aogo, der Trybull im Strafraum aus den Augen verlor. Diese Fehler waren es, die die Anstrengungen der engagierten HSV-Elf verpuffen ließen. Die Hoffnungen der Hamburger auf den Ausgleich nach einem von Fritz abgefälschten Freistoßtor durch Mladen Petric (76.) währten nur kurz.

Wieder Werder. Nur zu gut sind die Ereignisse aus dem Jahr 2009 im Gedächtnis jedes HSV-Fans, als Bremen alle Finalträume im DFB-Pokal und in der Europa League zerstörte. 2006 rutschten die Hamburger nach dem 1:2 gegen die Grün-Weißen am letzten Spieltag der Saison 2005/06 noch auf Rang drei ab und mussten in die Champions-League-Qualifikation. Ailtons Blackout - er traf das leere Tor nicht - bleibt unvergessen.

Auch in diesem Jahr betätigt sich das stark verjüngte Team von Thomas Schaaf als Saisonverderber. Nach der zweiten Rückrunden-Niederlage beträgt der Vorsprung auf Rang 16 zwar immer noch acht Punkte, doch genauso groß ist der Rückstand auf Europa-League-Platz sechs. Und selbst der siebte Platz, der zur internationalen Qualifikation reichen würde, sollte mit Dortmund, Mönchengladbach oder Bayern München ein Verein den DFB-Pokal gewinnen, der einen Champions-League-Platz belegt, ist acht Punkte entfernt.

Es ist aber weniger die aktuelle Tabellensituation, die den (heimlichen) Traum vieler HSV-Anhänger nach dem 1:1 gegen München und dem 1:0 in Köln platzen ließ, doch noch in die vorderen Ränge vorzustoßen. Gegen defensiv orientierte Gegner hat der HSV von heute nicht die Qualität und somit nicht die Mittel für den Erfolg - vor allem nicht im Mittelfeld. Stets bemüht, aber oft zu umständlich und ohne Tempo, waren die Hamburger zwar optisch überlegen und lagen in allen gemessenen Werten (Zweikämpfe, Ballbesitz, Flanken) vorne. Aber in die gefährliche Zone vor Werders Tor konnten sie zu selten vorstoßen. Dass der HSV im Volkspark in zwölf Spielen nur elf Punkte (zwei Siege, fünf Remis, fünf Niederlagen) ergatterte - Rang 16 in der Heimtabelle -, beweist, dass diese Probleme des HSV grundsätzlicher Natur sind.

Im Defensivverhalten wiederum verhielt sich der HSV mehr als einmal amateurhaft. Ein Rückfall in alte Zeiten, der in dieser Heftigkeit nicht zu erwarten war. "In den vergangenen Spielen haben wir defensiv besser gestaffelt gestanden", erkannte Westermann, "uns fehlte mehrfach die Absicherung nach einem Ballverlust, wir sind so in der Abwehr in Unterzahl geraten. Da wird das Verteidigen gegen jede Mannschaft schwer."

Und Thorsten Fink? Der HSV-Trainer, der im Vorfeld die Bedeutung des Nordderbys beschworen hatte, analysierte die Niederlage sachlich-kühl wie ein Wirtschaftsmanager, der sein Planziel verfehlt hat - und war dennoch um Optimismus bemüht. Er kritisierte zwar die Fehlleistungen, betonte aber, dass die Niederlage keinesfalls als Rückschlag einzuordnen sei: "Ich lasse mir von niemandem etwas aufschwatzen, die Gesamtleistung stimmte." Und außerdem: "Man hat gesehen, dass unser Anspruch nicht die Europa League ist, sondern das gesicherte Mittelfeld."

Als der HSV-Trainer dann noch warnte, 26 Punkte würden noch nicht reichen, um die Klasse zu halten, dachte er womöglich schon an das schwere kommende Auswärtsspiel bei Borussia Mönchengladbach am Freitag, wo die Leistung aus dem Bremen-Spiel ganz sicher nicht für Punktgewinne reichen würde. Und auch Sportchef Frank Arnesen war bemüht, schnell zum Tagesgeschäft überzugehen: "Heute war das Stillstand, aber wir sind weiterhin auf einem guten Weg."

"Libertatem quam peperere maiores digne studeat servare posteritas" hatten die Nordtribünen-Fans auf ein riesiges Transparent geschrieben, jenen Sinnspruch über dem Rathausportal, der auf das hanseatische Selbstbewusstsein und die Eigenständigkeit hinweist. Dieser Spruch, frei übersetzt mit "Die Freiheit, die schwer errungen die Alten, möge die Nachwelt würdigerhalten", ist nach der Niederlage gegen Bremen nur auf die ununterbrochene Bundesliga-Zugehörigkeit zu beziehen. Doch die Spieler sollten sich nicht nur mit dem Erreichen des Minimalziels Nichtabstieg begnügen.

Fink und Arnesen werden in den kommenden Wochen ganz genau hinschauen, welchem Spieler sie in der folgenden Saison zutrauen, die nächste Qualitätsstufe zu erreichen. Die Profis scheinen dies zu wissen. "Unser Trainer wird es nicht zulassen, dass es nur so dahinplätschert. Er und wir sind viel zu ehrgeizig", beteuert Aogo. Welche Ziele es in dieser Saison überhaupt noch gäbe? "Wir wollen uns weiterentwickeln." Um viel mehr kann es in einer Spielzeit, die für viele am Sonnabend um 17.20 Uhr beendet war, nicht mehr gehen.