Mit seinem Lupfer drehte Andrea Pirlo das Elfmeterschießen gegen England und lieferte den neuesten Beweis seiner großen Fußballintelligenz.

Krakau. Andrea Pirlo schlurfte zum Elfmeterpunkt, Ball in der Hand, ausdruckslose Miene, allenfalls seine lange Mähne wippte etwas im Wind. Über 120 Minuten hatte er mit seinen Gegnern getanzt, ihnen kurz den Ball gezeigt, um ihn dann doch durch ihre Beine zu legen oder sie mit einer kleinen Drehung zu Boden zu werfen. Er hatte immer richtig gestanden, in der Mitte des Spiels, und er hatte zahllose dieser hinreißenden Diagonalpässe gespielt, die seinen Mitspieler einfach auf den Fuß fielen. Pirlo hatte seine Mannschaft bewegt wie ein guter Puppenspieler, so brillant wie generös. Dennoch: es schien nicht zu reichen. 0:0, Elfmeterschießen, und in dem lag Italien sogar zurück.

Hinter seinem Pokerface verbarg Pirlo die Ahnung, dass er jetzt etwas Besonderes machen müsste. Pirlo war der insgesamt fünfte Schütze, beide Engländer vor ihm hatten getroffen, sein Teamkollege Riccardo Montolivo aber verschossen. Wie so oft schien sich die Mannschaft durchzusetzen, die das Elfmeterschießen mehr gewollt hatte. Torwart Joe Hart strotzte vor Adrenalin, war immer im richtigen Eck. Mit 33 Jahren, einem WM-Triumph und zwei Champions-League-Siegen im Curriculum, mit seiner ganzen Fußballintelligenz wusste Pirlo: Einfach zu verwandeln, wird nicht reichen. Er musste das Momentum dieses Spiels drehen.

Daher wählte er die schillerndste Variante, einen Strafstoß zu schießen. Den 1976 bei der EM in Jugoslawien im Finale zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei erstmals gezeigten "Panenka-Elfmeter", bei dem es nur zwei Ergebnisse gibt: Genie oder Depp.

+++ Info: Der Panenka-Elfmeter +++

Pirlo lief an und löffelte den Ball mit gefühlten fünf Kilometern pro Stunde halbhoch in Richtung Tormitte. Während Pirlo nach seinem Schnibbler locker austrabte, sah er Hart in der rechten Ecke zu Boden gehen und entgeistert den Ball anstarren, der so langsam über die Linie schwebte, dass er in der Luft fast stehen zu bleiben schien. Hart versuchte noch mit dem linken Fuß an das Spielgerät zu kommen, hatte aber keine Chance mehr.

Danach ging alles ganz schnell: Der nächste Engländer, Ashley Young, setzte seinen Elfmeter an die Latte, der übernächste, Ashley Cole, schoss Italiens Torwart Gianluigi Buffon so sanft in die Arme, wie das nur einer macht, dem gerade alle Dämonen der Fußballgeschichte in die Glieder gefahren sind. Derweil verwandelten die weiteren Italiener, beseelt vom Coup ihres Spielmachers, mit formvollendeter Leichtigkeit. Der Plan war aufgegangen. "Joe Hart hat kuriose Bewegungen gemacht", sagte Pirlo später, deshalb habe er sich für den Löffler entschieden. Und ja, er habe die Engländer aus dem Konzept bringen wollen: "Mein Elfmeter hat den Druck auf sie erhöht."

+++ Schweinsteiger meldet sich für die Revanche gegen Italien fit +++

Pirlo wurde zum "Mann des Spiels" gewählt, deshalb musste er sprechen. Normalerweise sagt er am liebten gar nichts. Der langjährige Spielgestalter des AC Mailand, der 1994 seine Karriere in Brescia begann, seit einem Jahr bei Juventus Turin unter Vertrag steht und seit 2002 auf 87 Länderspiele kam, ist nicht nur Italiens bester, sondern auch undurchschaubarster Fußballer. Vom Glitzer, der den Fußball umgibt, hält er sich fern. Was wiederum die einzige Erklärung dafür ist, dass er es nie zum Weltfußballer des Jahres oder ähnlichen Ehren brachte. 2006, als er Italiens WM-Sieg dirigierte, wurde Verteidiger Fabio Cannavaro ausgezeichnet. Nun ja.

+++ Italien ist der Angstgegner der deutschen Nationalelf +++

Auch beim Turnier in Deutschland gab es eine Szene, die seinen speziellen emotionalen Aggregatszustand demonstriert. Pirlo wird umso ruhiger, je mehr um ihn herum der Wahnsinn tobt. 119. Minute im Halbfinale gegen die Gastgeber, ein abgewehrter Eckball kommt beim Stand von 0:0 an der Strafraumgrenze zu ihm. Jeder andere hätte wohl abgezogen, zumal wenn er wie Pirlo ein hervorragender Distanzschütze ist. Aber er legte ab zu Fabio Grosso. Der Rest ist Geschichte. Italien gewann am Ende 2:0 und wurde Weltmeister.

Wenn es am Donnerstag in Warschau zum Wiedersehen kommt, wird sich Deutschland einem Italien gegenübersehen, das noch stärker um Pirlo kreist als damals. Der Meister geht seiner Arbeit von tief hinten nach, vor der Abwehr, beschützt wie der König beim Schach durch zwei robustere Figuren vor ihm - Claudio Marchisio und Daniele De Rossi. Letzterer nennt Pirlo den "besten Spieler der Welt".

Das sehen viele Fachleute nicht anders. Und seit Sonntag wissen alle: Der lässigste Spieler ist er allemal.