Vor 64.340 Zuschauern am Sonntagabend im Olympiastadion in Kiew verwandelte Alessandro Diamanti den entscheidenden Strafstoß und verlängerte damit den Elfmeterfluch der “Three Lions“. Nach 120 Minuten hatte es erstmals in diesem Turnier 0:0 gestanden. “Das war ein verdienter Sieg. Das Elfmeterschießen hat Gerechtigkeit gebracht“, sagte der Matchwinner glücklich.

Kiew. Die verfluchten, verflixten, verdammten Elfmeter! Nach dem erneuten Versagen vom verhassten Kreidepunkt hadert England wieder mal mit seinem Schicksal. Sie waren es doch, die den Fußball erfunden haben, natürlich ohne Elfmeterschießen, das hat ein Deutscher erfunden. Und in „dieser komplett anderen Sportart“ (Teammanager Roy Hodgson) platzten zum sechsten Mal seit 1990 die englischen Träume vom zweiten Titel nach 1966.

Den tapferen Three Lions stand nach dem 2:4 gegen Italien die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. Sie waren in torlosen 120 Minuten zwar gnadenlos unterlegen gewesen, dennoch stand Steven Gerrard nach dem Drama im EM-Viertelfinale entgeistert auf dem Platz und kämpfte mit den Tränen. „Wir haben das Land stolz gemacht. Und jetzt fahren wir doch wieder mit gebrochenem Herzen nach Hause“, sagte der Kapitän mit leerem Blick. „Wir sind alle komplett niedergeschlagen“, stammelte Stürmerstar Wayne Rooney, der sein Gesicht unter dem hochgezogenen Trikot verbarg: „Es fühlt sich ganz schlimm an.“

Die 10.000 englischen Fans fluchten beim Verlassen des Stadions lauthals über die „bloody penalties“, und auch in den Medien gab es am Montag nur ein Thema: Die „Schüsse von der Strafstoßmarke zur Siegerermittlung“, erfunden im Jahre 1970 von Karl Wald, einem Friseur aus Bayern.

„Schon wieder müssen wir wegen dieser verflixten Elfmeter nach Hause“, schrieb der Independent: „Die Trainer ändern sich, die Spieler kommen und gehen, aber der ständige Schmerz einer herzzerreißenden Niederlage im Elfmeterschießen bleibt immer derselbe.“ Die Daily Mail stellte fest: „Es endet immer mit Elfmetern, und es endet immer mit Tränen. Wir hätten es wissen müssen, wir haben das doch alles schon mal gehabt. Aber das heißt nicht, dass es nicht schmerzt.“

Die Idee des Elfmeters, 1891 zuerst ausgeheckt von einem Iren, müssen die Jungs im Mutterland des Fußballs ausbaden. Dort, wo „penalty“ wörtlich Strafe heißt, wo sie zwar auf Pferderennen und die Hutfarbe der Queen wetten, aber auf solche Zockereien eigentlich keine Lust haben.

Im Trainingslager in Krakau haben sie wieder geübt. Vom ersten Tag an. Dass auf ihrem Platz zunächst kein Elfmeterpunkt eingezeichnet war - eine Ironie am Rande. Aber sie trugen Selbstsicherheit zur Schau. Schließlich hatte der FC Chelsea im Champions-League-Finale Bayern München im Elfmeterschießen geschlagen. Und im Training jagten sie den Ball mit schöner Regelmäßigkeit ins Tor - ganz gleich, ob mit oder ohne Punkt.

Sie waren sich so sicher, dass sie sich, als die Kräfte ausgingen, sogar freiwillig ins Elfmeterschießen schleppten. Und dann verschossen ausgerechnet Asley Young, dessen Kinder im Stadion mit „Daddy“-Trikots mitfieberten, und Ashley Cole, der für Chelsea gegen die Bayern getroffen hatte. „Wir waren sicher, dass wir fünf gute Schützen haben“, sagte Hodgson: „Aber den Druck kann man leider nicht simulieren.“

Nun, fürchtet der 64-Jährige, wird das Trauma noch tiefer sitzen. „Keine Frage: Jedes Scheitern macht es für die Zukunft noch schwerer“, sagte Hodgson: „Das Elfmeterschießen ist einfach ein Spiel im Spiel. Im Spiel über 90 Minuten waren wir bei dieser EM schon ganz gut, nun müssen wir uns noch im Spiel Elfmeterschießen verbessern.“

Gerrard schüttelte derweil immer noch den Kopf. „Ich war mir sicher, heute würden wir endlich mal das nötige Glück haben. Aber es war wieder nichts“, sagte er. „Wir hätten es doch extra noch geübt“, ergänzte Mittelfeldspieler James Milner: „Aber es soll wohl einfach nicht sein.“

Der Independent nahm es mit Galgenhumor. In Deutschland sei das Trauma ja schon als „englische Elfmeter-Krankheit“ bekannt, schrieb das Blatt: „Aus zwölf Yards zu versagen, ist in den letzten Jahren zu einem Synonym für England geworden. So wie schwarze Taxen, die Monarchie und Selbstironie. Deshalb sind Engländer für die Deutschen auch nicht mehr die Erzfeinde. Sondern nur noch die kranken Männer Europas; nur dazu da, sie zu bemitleiden und auf eine seltsame Art zu belächeln.“

Dennoch, da waren sie sich auf der Insel einig, haben die tapferen Löwen zumindest erhobenen Hauptes die EM verlassen. „Wir sind ungeschlagen geblieben“, betonte Hodgson. Verloren haben sie ja nur wieder in dieser komischen „anderen Sportart“. (SID)

Statistik

England: Hart/Manchester City (25 Jahre/22 Länderspiele) - Johnson/FC Liverpool (27/40), Terry/FC Chelsea (31/77), Lescott/Manchester City (29/20), Cole/FC Chelsea (31/98) - Milner/Manchester City (26/30) ab der 61. Walcott/FC Arsenal (23/5), Gerrard/FC Liverpool (32/96), Parker/Tottenham Hotspurs (31/17) ab der 94. Henderson/FC Liverpool (22/1), Young/Manchester United (26/25) - Rooney/Manchester United (26/76) - Welbeck/Manchester United (21/9) ab der 60. Carroll/FC Liverpool (23/3). - Trainer: Hodgson

Italien: Buffon/Juventus Turin (34 Jahre/118 Länderspiele) - Abate/AC Mailand (25/4) ab der 90.+1 Maggio/SSC Neapel (30/1), Barzagli/Juventus Turin (31/31), Bonucci/Juventus Turin (25/18), Balzaretti/US Palermo (30/10) - Pirlo/Juventus Turin (33/87) - Marchisio/Juventus Turin (26/24), Montolivo/AC Florenz (27/2), De Rossi/AS Rom (28/76) ab der 80. Nocerino/AC Mailand (27/1) - Balotelli/Manchester City (21/12), Cassano/AC Mailand (29/33) ab der 78. Diamanti/FC Bologna (29/1). - Trainer: Prandelli

Schiedsrichter: Pedro Poenca (Portugal)

Elfmeterschießen: 0:1 Balotelli, 1:1 Gerrard, Montolivo schießt neben das Tor, 2:1 Rooney, 2:2 Pirlo, Young schießt an die Latte, 2:3 Nocerino, Buffon hält gegen Cole, 2:4 Diamanti

Zuschauer : 64.340

Beste Spieler: Terry, Lescott - Pirlo, Marchisio

Gelbe Karten: - Barzagli, Maggio