Nicht gegebener Treffer facht Debatte über Sinn und Unsinn von Torrichtern an. Uefa schickt deutschen Referee Stark vorzeitig nach Hause.

Warschau. Agricola von Bologna war ein mutiger Mann. Als im Jahr 300 die Christen im Römischen Reich verfolgt und Tausende von ihnen blutig niedergemetzelt wurden, bekehrte der Adelige seine Bediensteten zum Katholizismus und schenkte ihnen anschließend die Freiheit. Kaiser Diokletian ließ ihn daraufhin im römischen Amphitheater kreuzigen. Bis heute wird Agricola wegen seiner Tapferkeit als Heiliger und Märtyrer verehrt, jedes Jahr findet am 4. November eine Gedenkfeier in seiner Kirche in Bologna statt. 1712 Jahre später kommt er noch auf gänzlich unerwartetem Weg zu weiterem Ruhm: Die Trainingseinheiten der Schiedsrichter bei diesem Turnier finden im nach ihm benannten Agrykola-Stadion in Warschau statt.

Mut ist ein gutes Leitmotiv für die Schiedsrichter auf ihrem weiteren Weg durch das Turnier, ein bisschen Tapferkeit kann auch nicht schaden. Denn die Fragen nach ihren Leistungen werden bohrender nach dem neuerlichen Lapsus des ungarischen Unparteiischen Viktor Kassai im Spiel zwischen derUkraine und England, als er und seine zahlreichen Assistenten einen glasklaren Treffer nicht anerkannten. Ein Schuss von Marko Devic hatte Englands Torhüter Joe Hart abgelenkt, doch der Ball senkte sich hinter ihm scheinbar unaufhaltsam gen Tor, ehe Verteidiger John Terry ihn per toller Rettungstat raushaute. Dumm nur, dass der Ball schon hinter der Linie war. Sowohl der Linienrichter als auch der erstmals bei diesem Turnier eingesetzte Torrichter hatten freie Sicht auf die Kugel. Doch Kassais Pfeife blieb stumm.

Eine halbe Stunde später hatten die Gastgeber mit 0:1 verloren und waren ausgeschieden. Trainer Oleg Blochin schimpfte: "Sie haben uns ein Tor gestohlen." Und die ukrainische Zeitung "Segodna" spöttelte: "Bei der EM 2012 gibt es fünf Schiedsrichter. Wie viele braucht es, um ein Spiel korrekt zu pfeifen?" Die Antwort darauf gibt am gestrigen Tag Pierluigi Collina. Der Schiedsrichterchef der Europäischen Fußball-Union Uefa ist der Einzige seiner Abteilung, der während der EM reden darf. Die zwölf Referees sind während des Turniers zum Schweigen verpflichtet. "Die Uefa betreibt dieses Experiment seit drei Jahren", antwortet Collina also der ukrainischen Zeitung: "Wir finden, es ist ein großer Erfolg."

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Den Maulkorb für die Unparteiischen hatte er seinerzeit damit begründet, sie schützen zu wollen. Wie genau es der frühere Weltklasse-Schiedsrichter mit dem Schutz seines EM-Dutzends nimmt, zeigte sich am ersten spielfreien Tag des Turniers. Kassai und der Ergoldinger Sparkassenangestellte Wolfgang Stark könnten nach Hause fahren, teilte Collina mit: "Sie gehören zu den vier Schiedsrichtern, für die das Turnier nach der Vorrunde beendet ist." Geht es nach Kroatiens Trainer Slaven Bilic hatte Stark sich schon zuvor eine Auszeit gegönnt. In der Partie gegen Spanien übersah das deutsche Schiedsrichtergespann ein Foul im Strafraum des Titelverteidigers und verweigerte den Kroaten den berechtigten Elfmeter. Heißsporn Bilic nannte ihn danach "Blindfisch".

Statt sich schützend vor sie zu stellen, strafte die Uefa beide nachträglich ab. Kassai habe im Spiel zwischen England und der Ukraine einen folgenschweren Fehler begangen, begründete Collina: "Es wäre nicht leicht gewesen, ihn bei diesem Turnier noch einmal einzusetzen." Wolfgang Stark wurde neben seinen durchwachsenen Leistungen wohl auch zum Verhängnis, dass die deutsche Mannschaft noch im Turnier vertreten ist und die Partien ihrer Landsleute für die Unparteiischen tabu sind. Andererseits darf der Brite Howard Webb bleiben, er leitet sogar das Viertelfinale zwischen Tschechien und Portugal am Donnerstag (20.45 Uhr, ARD). Ihn hatte Bilic nach dem Unentschieden gegen Italien ebenfalls wegen zahlreicher Fehlentscheidungen kritisiert; "Er war definitiv kein Fan von Kroatien heute."

Diskussionen über die Schiedsrichter gehören zu Fußballturnieren wie pompöse Eröffnungsfeiern. Bei der vergangenen Weltmeisterschaft empörten sich die Experten über Referees aus Paraguay, Mali oder Saudi-Arabien, die aus deren Ligabetrieb ein deutlich geringeres Spieltempo gewohnt und deswegen regelmäßig überfordert waren. Aufgrund einer fragwürdigen Quotenregelung waren jedoch auch winzige Verbände berechtigt, Schiedsrichter in die WM-Stadien zu schicken; das Finale leitete damals Rawschan Irmatow, ein Lehrer aus Usbekistan. Solche Probleme sollten bei dieser EM endlich der Vergangenheit angehören.

Die Unparteiischen bekamen so viel Verstärkung an die Seite gestellt wie noch nie in der EM-Geschichte. Insgesamt sechs Offizielle begleiten eine Partie, neben dem Hauptschiedsrichter noch zwei Linienrichter, zwei Torrichter sowie ein vierter Referee, der für Ordnung in den Coachingzonen sorgen soll. "Wir sind sehr zufrieden und glücklich mit ihren Leistungen", sagte Collina. 95,7 Prozent der getroffenen Entscheidungen seien korrekt gewesen: "So eine Erfolgsquote erreicht kein Stürmer bei seinen Torschüssen und kein Spielmacher mit seinen Pässen."

Das ist die eine Wahrheit. Die andere lautet: Den Unparteiischen sind 13 Fehler unterlaufen, darunter folgenschwere wie aberkannte Tore, Irrtümer bei Abseitsstellungen und unberechtigte Verwarnungen, die im Falle von Griechenland zu zwei lächerlichen Sperren (Giorgos Karagounis und Sokratis Papastathopoulos) geführt haben.

Vor allem die Torrichter stehen spätestens seit dem Aus der Ukraine in der Kritik. "Es war der erste Fehler dieser Art in mehr als 1000 Spielen, seit denen dieses Experiment läuft", so Collina: "Ich hoffe nicht, dass dies den positiven Eindruck verwischt." Am 5. Juli entscheidet das International Football Board über den Einsatz der Torlinien-Technologie (siehe Info-Kasten) - und somit auch ihre Zukunft.

Für Felix Magath, Trainer des VfL Wolfsburg und Abendblatt-Kolumnist, ist der Fall klar. "Her mit der Tortechnologie!", schrieb Magath auf seinem Facebook-Profil, "eine menschliche Fehlleistung raubte Sportlern den Lohn ihrer Anstrengung. Ein glasklares Tor wurde nicht gegeben, weil ein Signal aus dem Ball nicht vorhanden, der Blick auf den Monitor nicht gestattet, technische Hilfsmittel zur Erkennung eines Treffers nicht vorhanden" sind.