Eine böse Fehlentscheidung des zusätzlichen Schiedsrichter-Assistenten hat den EM-Gastgeber Ukraine um ein mögliches Viertelfinale gebracht.

Donezk. Oleg Blochin tobte an der Seitenlinie und schrie wild gestikulierend auf den vierten Offiziellen ein. Andrej Schewtschenko rannte nach dem Schlusspfiff auf den ungarischen Torrichter und anschließend auf Schiedsrichter Viktor Kassai zu. „Wir waren besser, wir hatten die besseren Chancen“, schimpfte Blochin. „Die Schiedsrichter haben uns ein Tor gestohlen, das war ein klarer Treffer.“

Nach den Polen ist auch der zweite Gastgeber der ersten Fußball-Europameisterschaft im ehemaligen Ostblock schon nach der Vorrunde gescheitert. Was die Gemüter der Ukrainer so erregte, war eine Szene nach gut einer Stunde Spielzeit und eine fatale Fehlentscheidung der zuvor noch so gepriesenen Torrichter.

Es lief die 62. Minute an diesem denkwürdigen Abend in der Donbass Arena in Donezk. Ein Schuss des ukrainischen Angreifers Marko Devic senkte sich über Englands Torwart Joe Hart hinab. Der Ball überquerte knapp, aber doch deutlich für alle Fernsehkameras sichtbar die Linie, bevor ihn Englands Routinier John Terry wieder ins Feld beförderte.

Was alle TV-Kameras einfingen, was alle Menschen im Stadion später zu sehen bekamen und was als die Fehlentscheidung dieser EM-Vorrunde in die Rückblicke eingehen wird, hatte der Torrichter nicht erkannt. „Das ist eine Tatsachenentscheidung“, meinte Hart nur gleichsam lapidar wie erleichtert. Das Spiel lief weiter, die Ukraine war um den verdienten Ausgleich gebracht – und musste sich am Ende nach dem 0:1 durch das Tor von Wayne Rooney von dieser EM verabschieden.

+++ Blochin: "Der Ball war einen Meter hinter der Linie" +++

Für die Turnierstimmung ein herber Verlust, für die Europäische Fußball-Union ein schwerer Rückschlag. Bis zu diesem letzten Vorrunden-Spieltag hatten sie in der Uefa von Schiedsrichterchef Pierluigi Collina bis zu Präsident Michel Platini noch alle das erstmals bei einer großen Veranstaltung getestete System mit den sogenannten additional assistant referees gepriesen.

„Das ist das Turnier mit den besten Schiedsrichterleistungen bisher“, hatte Platini noch am Montag in seiner Vorrundenbilanz gesagt und seine Kritik an der von der Fifa favorisierten Torlinientechnologie erneuert. „Man braucht solche Systeme nicht, Technik, Satellit, GPS oder Chip im Ball“, hatte der Franzose betont und gesagt, dass das legendäre nicht-gegebene Tor von Frank Lampard im Spiel gegen Deutschland bei der WM 2010 in Südafrika mit einem Torrichter auf alle Fälle erkannt worden wäre. „Weil es sein Job ist, zu sehen, ob der Ball hinter der Linie ist“, sagte Platini.

Nur einen Tag später sollte ihn diese Aussage einholen. Denn beim ukrainischen Torklau tauchte wieder die Frage auf, warum es bei der Euro Torrichter gibt, wenn diese trotz bester Sicht auf das Geschehen in kritischen Momenten versagen.

So wie übrigens auch der deutsche Torrichter Florian Mayer beim ausgebliebenen Elfmeterpfiff von Wolfgang Stark nach dem Foul von Sergio Ramos an Mario Mandzukic im Spiel Spanien gegen Kroatien. „Der Treffer hätte das Spiel verändert“, klagte Ukraines Superstar Andrej Schewtschenko nach dem Torklau von Donezk, „ich denke nicht, dass es Diebstahl war, aber ich verstehe nicht, warum wir keine Technologie benutzen.“

Ob Zufall oder nicht – am Dienstagabend um 23.17 Uhr, also gut eine Stunde nach Spielschluss in Donezk, sagten die polnischen Organisatoren eine für Mittwoch um 10.00 Uhr morgens geplante Pressekonferenz ab. Teilnehmer hätten sein sollen: Turnierdirektor Martin Kallen und Uefa-Generalsekretär Gianni Infantino.

Die Fifa favorisiert technische Hilfsmittel

Nach dem Torklau von Donezk hat Joseph Blatter vehement die Einführung technischer Hilfsmittel für Schiedsrichter gefordert und den Druck auf die Technik-Gegner bei der UEFA erhöht. „Nach dem Spiel der vergangenen Nacht ist die Torlinien-Technologie keine Alternative mehr, sondern eine Notwendigkeit“, teilte der Boss des Fußball-Weltverbandes Fifa am Mittwoch über den Kurznachrichtendienst Twitter mit.

Am 5. Juli wird das International Football Association Board (Ifab) bei einer Sitzung in Zürich eine Entscheidung treffen. Die Richtung ist klar – nicht erst seit dem Torklau im EM-Spiel England gegen die Ukraine am Dienstag in Donezk. Anfang März hatten sich die Regelhüter des Weltfußballs „im Prinzip“ auf die Einführung der Torlinientechnik geeinigt.

Die Technik könnte bereits bei der Club-WM in Japan im Dezember und beim Confederations Cup 2013 in Brasilien zum Einsatz kommen. „Wir wollen das System zur WM 2014 etabliert haben“, sagte damals Fifa-Generalsekretär Jerome Valcke. Nach jahrelangen Tests sind noch zwei Varianten im Rennen: Der Chip im Ball (GoalRef) und die Torkamera (die aus dem Tennis bekannte Hawk-Eye-Technik). Der Videobeweis als weiteres technisches Hilfsmittel wurde erst einmal wieder verworfen.

+++ "Schiedsrichter Stark hat Kroatien aus dem Turnier geworfen" +++

CHIP IM BALL: Experten des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Schaltungen (IIS) aus Erlangen forschen seit drei Jahren an dieser Technik. Diese basiert auf einem Magnetfeld am Tor. Passiert der Ball die Torlinie, wird ein entsprechendes Funksignal dem Schiedsrichter auf dessen Uhr übermittelt. „Der Diebstahlschutz im Kaufhaus basiert auf einer ganz ähnlichen Technik“, sagt Fraunhofer-Ingenieur Thomas von der Grün. Und so wie dort ein Alarm ausgelöst werde, wenn die Sicherung an der Ware nicht entfernt worden ist, so übermittle die Technik im Stadion ein Signal an den Unparteiischen.

TORKAMERA: Die sogenannte Hawk-Eye-Technik aus England wurde zuletzt bei der EM-Generalprobe der englischen Nationalmannschaft gegen Belgien im Wembley-Stadion getestet. Erfahrungen damit gibt es bereits im Tennis und im Cricket. Das System arbeitet mit Kameras und einer optischen Erkennung der Spielsituation. Allerdings würde die Rückmeldung durch das System, die etwa per Vibration erfolgt, nur an den Schiedsrichter erfolgen und wäre im Unterschied zum Hawk-Eye beim Tennis nicht für das Publikum bestimmt.

Auch nach der Ifab-Entscheidung vier Tage nach dem EM-Finale werden einige Fragen zunächst offen bleiben. Sollten beide Technologien akzeptiert werden – darf sich dann jede Liga aussuchen, womit sie arbeitet? Ab wann sind die Hilfsmittel erlaubt? In welchen Ligen? Wie schnell können beispielsweise die Tore in den Stadien umgerüstet werden? Welche Kosten kommen auf Verbände und Vereine zu? Bislang konnten die Kosten, die die Clubs und nicht etwa die TV-Sender zu tragen hätten, noch nicht belastbar beziffert werden. (dpa/abendblatt.de)