Deutschland fehlt nur noch ein Punkt zum Viertelfinale. Die Defensive ist bereits titelreif, die Offensive bis auf Mario Gomez noch nicht ganz.

Danzig/Charkow. Als die DFB-Delegation gestern gegen 4 Uhr morgens endlich im mittlerweile heimischen Dwor Oliwski angekommen war, wurden die "sofort beginnenden Regenerationsmaßnahmen" (Joachim Löw) flugs ins Bett verlegt. Mehr als 30 Minuten hatte die deutsche Mannschaft zweieinhalb Stunden zuvor in Charkow auf dem Rollfeld warten müssen - und dabei sogar noch Glück gehabt. So mussten die Spielerfrauen, die nach dem berauschenden 2:1-Sieg gegen die Niederlande parallel in einer anderen Maschine untergebracht waren, sogar drei Stunden warten, ehe die ukrainischen Fluglotsen, die laut Bastian Schweinsteiger leider nicht der englischen Sprache mächtig waren, Erbarmen hatten. "Da sollte die Uefa mal eingreifen", ließ sich der Münchner am nächsten Morgen sogar zu einer drastischen Forderung hinreißen, die die Stimmungslage im deutschen Quartier aber in keiner Weise trüben konnte.

Nach den zwei Siegen in den zwei Spielen gegen Portugal und die Niederlande wird auch ein überschaubares Maß an Schlafmangel mit bester Laune in Kauf genommen. "Wenn man in der von allen gefürchteten Todesgruppe", begann Löw einen Satz, und unterstrich seine Worte mit einem plötzlichen Wechsel ins Englische, "also wenn man in der sogenannten Group of Death sechs Punkte zum Auftakt holt, dann ist das sicherlich nicht so schlecht."

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Und wirklich war es alles andere als schlecht, wie Deutschlands über Monate so kritisierte Defensivabteilung zunächst die portugiesischen Ballkünstler und am Mittwoch auch noch den niederländischen Voetbal totaal stoppte. Besonders die Art und Weise, wie Schweinsteiger und sein Mittelfeldpartner Sami Khedira das zentrale Mittelfeld Meter für Meter eroberten, beeindruckte und erinnerte an beste WM-Zeiten von vor zwei Jahren. Echte Fleißpunkte verdienten sich ausgerechnet die Flügelflitzer Lukas Podolski und Thomas Müller, die zwar vorne nicht glänzen konnten, ihre Abwehrkollegen aber tatkräftig unterstützten. Glaubt man Schweinsteiger, der meinte, dass bei "dieser EM die Mannschaft am weitesten kommt, die defensiv am besten steht", dann darf sich Deutschland für den weiteren Turnierverlauf tatsächlich Titelhoffnungen machen.

Bevor sich das DFB-Team aber in der Theorie mit Viertel- und Halbfinale sowie einem Endspiel auseinandersetzt, gilt es erst mal ganz praktisch, am Sonntag gegen Dänemark den letzten fehlenden Punkt für den sicheren Einzug in die K.-o.-Runde zu erkämpfen. Dabei könnte das Nachbarschaftsduell gegen den Europameister von 1992 auch dafür genutzt werden, um die noch nicht titelreife Abstimmung in der Offensive zu verfeinern. "Wir können noch schneller und mit noch mehr Ballbesitz spielen", hatte Toni Kroos bereits unmittelbar nach dem Sieg gegen die Niederlande zugegeben und gleichzeitig mit nur zehn Worten das Luxusproblem umschrieben, das Löw umtreibt.

Dem Bundestrainer ist trotz der positiven Ergebnisse nicht entgangen, dass sein Prunkstück, die deutsche Abteilung Attacke, noch immer nicht zu Höchstform aufgelaufen ist. Besonders die Leistung der in den vergangenen Monaten so gefeierten Dreierreihe hinter Mario Gomez (siehe Seite 22) mit Müller (rechts), Mesut Özil (zentral) und Podolski (links) war erneut ausbaufähig. Löw wollte zwar keine generelle Kritik an seiner Offensivabteilung, "die mit högschder Disziplin nach hinten gearbeitet" hätte, geltend machen, sagte dann aber drohend in Richtung der anderen Titelanwärter, dass es sicher noch besser werden würde.

Die Gelassenheit des Bundestrainers ist auch dadurch zu erklären, dass dieser mit Marco Reus, André Schürrle und Mario Götze noch immer drei Superjoker in der Hinterhand hat, die der lahmenden Offensive jederzeit neuen Schwung einhauchen könnten. Definitiv wechseln muss Löw rechts in der Viererkette, wo Jerome Boateng gelbgesperrt am Sonntag in Lwiw fehlen wird. Erster Anwärter als Vertreter ist Lars Bender, eine zweite Alternative wäre ein Seitenwechsel Philipp Lahms, für den dann Marcel Schmelzer links verteidigen dürfte. Keine Erwähnung in der Auflistung der löwschen Gedankenspiele fand Benedikt Höwedes, der derzeit keine Startelfoption zu sein scheint. Das könne sich im Verlauf des Turniers aber jederzeit ändern, sagte Löw, der mit einem Erfolg gegen Dänemark weitere Reisestrapazen vorerst verhindern könnte. Das Viertelfinale wäre ein Heimspiel in Danzig, ein mögliches Halbfinale in Warschau, erst das Finale wäre wieder in der Ukraine. Und bis dahin sollten dann auch die Fluglotsen in Kiew ausreichend Zeit zur Vorbereitung haben.

Abendblatt-Redakteur Kai Schiller schreibt jeden Tag aus Polen einen Brief an Hamburg www.abendblatt.de/schillersbriefe