Deutschland und die Niederlande haben vor dem zweiten Vorrundenspiel das gleiche Luxusproblem: Je ein Weltklassestürmer muss draußen bleiben.

Danzig. Die Frage musste ja kommen. Miroslav Klose oder doch lieber wieder Mario Gomez? Bundestrainer Joachim Löw kratzte sich am Kinn, holte tief Luft und antworte verbindlich in seiner unverbindlichen Art und Weise: "Ich bin froh, zwei solche Klasseleute da vorne zu haben. Der Miro ist ein Weltklassestürmer und der Mario auch." Punkt, ein kurzes Lächeln für die Fotografen, die nächste Frage. Somit weiß die Nation zwei Tage vor dem Spiel der Nationalmannschaft gegen die Niederlande (Mi, 20.45 Uhr, ZDF) genauso viel über die Besetzung des deutschen Ein-Mann-Angriffs wie zwei Tage vor dem 1:0-Sieg gegen Portugal: nichts.

Wahrscheinlich gibt es 13 von 16 Nationaltrainern bei dieser EM, die Löw für sein Luxusproblem im Sturm beneiden. Bert van Marwijk gehört sicherlich nicht dazu. Genauso wie sein deutscher Kollege muss auch der Bondscoach beinahe täglich der Nachbarnation erklären, was nun für den Weltklassestürmer Robin van Persie und was für den Weltklassestürmer Klaas-Jan Huntelaar spricht. "Sie können mich noch so oft zur Aufstellung und Taktik befragen, ich werde dazu nichts sagen", antwortete der frühere Dortmund-Trainer zuletzt spürbar gereizt. Denn Luxusproblem hin oder her, van Marwijk hat gegenüber Löw einen entscheidenden Nachteil: Deutschland hat das erste Spiel gewonnen, die Niederlande nicht.

+++ Klose für Gomez? Löw lässt sich nicht in die Karten schauen +++

Anders als in Holland, wo nach der überraschenden Auftaktniederlage gegen Dänemark ein Großteil der Fans und der selbst ernannten Experten am liebsten Linksfuß van Persie und Rechtsfuß Huntelaar in der Startelf gegen Deutschland sehen würden, haben sich Fans, Medien und auch Spieler hierzulande längst mit dem löwschen Ein-Stürmer-System angefreundet. "In unserem Spielsystem ist nun mal nur Platz für einen Stürmer. Es wird in den nächsten Wochen, Monaten und vielleicht auch Jahren also immer so sein, dass Miro und ich um diesen einen Platz kämpfen", sagt Gomez, der in der Vergangenheit meist das Opfer der von Löw präferierten 4-2-3-1-Taktik war. Erstmals hatte der Bundestrainer die Taktik mit drei variablen Offensivkräften hinter einer einzigen Spitze im EM-Vorrundenspiel gegen Portugal vor vier Jahren ausprobiert, seit der WM 2010 gilt das System als gesetzt.

Neu ist die Thematik also nicht, neu ist nur die Rollenverteilung zwischen dem einstigen Platzhirsch (Klose) und dem einstigen Herausforderer (Gomez). "Jeder weiß, dass die EM 2008 und die WM 2010 nicht unbedingt meine Turniere waren, umso mehr habe ich mich nun über das Vertrauen des Bundestrainers gefreut", sagt Gomez, der nach seinem Siegtreffer gegen Portugal, dem neunten Länderspieltor innerhalb der letzten elf Spiele, so langsam auch das Vertrauen der Öffentlichkeit einfordert. Der etwas derb formulierten Forderung vom ARD-Experten Mehmet Scholl, der trotz des Siegs gegen Portugal mehr Engagement und eine größere Laufleistung der bajuwarischen Tormaschine angemahnt hatte, konterte Münchens Stürmer zunächst gelassen ("Ich empfinde das überhaupt nicht als Attacke"), sagte dann aber: "Ich bin seit fünf Jahren der erfolgreichste Bundesligastürmer, war in dieser Saison nach Messi der erfolgreichste Torschütze in der Champions League. Da möchte ich doch wissen, warum ich mich ändern sollte."

+++ Gomez kontert Scholl-Kritik: "Warum soll ich mich ändern?" +++

Gleiches fragt sich beim kommenden Gegner auch Schalkes Huntelaar. "Sehr frustrierend" sei sein Reservistendasein, klagte er jüngst, "ich finde, dass ich keine echte Chance erhalten habe." Der 28-Jährige wurde gerade erst mit 29 Treffern Torschützenkönig der Bundesliga, muss sich in der Elftal aber trotz der besseren Länderspiel-Torquote (54 Spiele, 31 Tore) hinter Arsenal Londons van Persie (66 Spiele, 25 Treffer) bislang mit der ungeliebten Reservistenrolle zufriedengeben. Dabei gilt Huntelaar ähnlich wie Gomez als eiskalter Strafraumstürmer, während van Persie ähnlich wie Klose als technisch versierter und mitspielender Angreifer gesehen wird. "Beide haben einen unglaublichen Abschluss und gehören im Strafraum zu den besten acht Stürmern der Welt", lobt Mats Hummels, der in dieser Saison jeweils zweimal gegen Huntelaar und Arsenals van Persie gespielt hat und am Mittwoch in Charkow erneut das Vergnügen haben wird, mindestens gegen einen von beiden zu verteidigen.

Die Frage, welchem Weltklassestürmer man nun das Vertrauen schenken soll, werden Löw und van Marwijk endgültig wohl erst nach der Ankunft heute in Charkow beantworten. "Keinen" war die überraschende Antwort, die Spaniens Vincente del Bosque bereits am Sonntag im Spiel seiner Mannschaft gegen Italien auf die gleiche Frage gegeben hat. Der Trainer des aktuellen Europameisters ließ sein Team ganz einfach ohne Angreifer, dafür aber mit sechs Mittelfeldspielern auflaufen. Als mit Fernando Torres in der 74. Minute schließlich doch noch ein gelernter Angreifer eingewechselt wurde, stand für die englische Stürmerlegende Gary Lineker sogar die Zukunft der gesamten Zunft auf dem Spiel. "Fernando", twitterte der einstige Torjäger, "merkst Du nicht, dass Du jetzt für die bloße Existenz des Mittelstürmers spielst?"

Abendblatt-Redakteur Kai Schiller schreibt täglich aus dem DFB-Quartier einen Brief nach Hamburg www.abendblatt.de/schillersbriefe