Die Nerven sind äußerst angespannt. Sebastian Vettel hat nur wenig Zeit, sich vom Deutschland-Trauma zu erholen. Im Kampf gegen einen Fernando Alonso auf Wolke sieben kann er sich keine Ausrutscher mehr leisten. Und genau das weiß Vettel allzu gut.

Hockenheim. Sebastian Vettel rannte schnurstracks an allen Kameras und Mikros vorbei. Kein Wort, kein Kommentar zu der Strafe nach dem wohl bittersten Heimrennen seiner Karriere. Denn Vettel war nach der folgenreichen Strafe für sein finales Überholmanöver auf dem Hockenheimring klar: Mit schon 44 Punkten Rückstand auf den schier unschlagbaren Fernando Alonso rückt der historische WM-Hattrick vorerst in weite Ferne. Krönt der Spanier seine überragende erste Saisonhälfte am kommenden Sonntag – seinem 31. Geburtstag – in Ungarn mit Saisonsieg Nummer vier, werden die vier Wochen Sommerpause für Vettel zu Formel-1-Frustferien.

Vettel zog sich nach seinem verkorksten Heimspiel auch noch Ärger mit Lewis Hamilton und den Spott der britischen Medien zugezogen. Das Boulevardblatt Mirror überschrieb einen Artikel über den Red-Bull-Piloten mit „Heulsuse“. Hamilton erklärte: „Es ist mir egal, was er sagt. Aber ich denke, das sagt alles über seine Reife.“

Vettel, der am Ende wegen eines Überholmanövers gegen Jenson Button abseits der Strecke von Platz zwei auf fünf zurückversetzt wurde, hatte sich wortstark über ein Manöver von Buttons Teamkollege Lewis Hamilton beschwert. „Es ist ein bisschen dumm, sich mit den Führenden anzulegen“, hatte Vettel geschimpft, nachdem der durch einen Reifenschaden früh zurückgefallene Hamilton ihn blockiert hatte: „Das war nicht nett von ihm.“ Hamilton erklärte, er habe „nichts Dummes getan. Ich hatte nichts zu verschenken und gebe nie auf“. Sein Sportdirektor Sam Michael ergänzte: „Lewis war schneller, überholte und zog davon. Ich kann in diesem Verhalten keine Dummheit erkennen.“

Den verbalen Hieb hatte Vettel verteilt, noch ehe es ihn selbst wegen des Überholmanövers gegen Hamiltons Stallkollegen Jenson Button in der vorletzten Runde des Großen Preises von Deutschland richtig traf. Zwei Stunden nachdem er Sieger Alonso mit Schampus geduscht hatte, bekam Vettels fünfter Fehlversuch auf den ersten Heimsieg einen bitteren Nachgeschmack. „Es war gut, beim Heimrennen auf dem Podium zu stehen, aber ich muss die Entscheidung der Stewarts akzeptieren“, teilte Vettel via offizieller Teamerklärung mit. Das war's.

Landsmann Nico Hülkenberg konnte die Entscheidung der Rennkommissare – im Gegensatz zu Vettel – nachvollziehen. „Das war so nicht in Ordnung“, sagte der Force-India-Pilot am Montag bei einem PR-Termin in Stuttgart. Vettel hatte bei seiner Aktion gegen Button mit allen vier Rädern die Strecke verlassen. Dafür erhielt er eine Strafe von 20 Sekunden und rutschte auf Rang fünf ab. Button wurde Zweiter vor Ex-Champion Kimi Räikkönen im Lotus.

Nach Platz zwei in Australien, dem Sieg in Bahrain und Rang drei in Großbritannien steht Vettel zur Rennhalbzeit mit gerade mal einem Sieg und insgesamt drei Podiumsplätzen da. Zum Vergleich: In der vergangenen Saison kam Vettel bei insgesamt 19 Rennen nur zweimal nicht unter die ersten Drei (einmal Vierter, einmal ausgeschieden).

Das nagt offensichtlich an Vettel. In Malaysia hatte er den Inder Narain Karthikeyan als „Gurke“ beschimpft. In Valencia deutete er Verschwörungstheorien an. In beiden Rennen holte Vettel nicht mal einen Punkt.

Im Gegensatz zu Alonso, der es in den vergangenen 22 Grand Prix immer unter die Top Ten schaffte und momentan in der Form seines Lebens ist. „Man muss ja sehr gut sein, wenn diejenige applaudieren, die sich beleidigt hätten fühlen können“, stellte das Sportblatt „As“ (Montag) fest. „Der Spanier ist wirklich der Beste.“

Egal, was Alonso derzeit macht – es gelingt. Bei einem Zeitfahren mit einem High-Tech-Rennrad bretterte er jüngst mit einem beeindruckenden Schnitt von deutlich über 40 Stundenkilometer bis auf Rang drei. Und im Ferrari ist der Alonso von 2012 sowieso zum Maß der Dinge geworden.

Vor der Saison noch verspottet und mitleidig belächelt, lässt die „Rote Göttin“ den in ein russisches Modell verliebten Alonso auch beruflich auf Wolke sieben schweben. Und ganz Italien ist stolz auf das Gemeinschaftswerk der wirtschaftlich angeschlagenen europäischen Nationen. „Das Auto italienisch, der Pilot spanisch, der Ingenieur griechisch“, schrieb die italienische Zeitung „Corriere della Sera“: „So gewinnt Ferrari in Deutschland.“

Alonso (154 Punkte) baute seinen Vorsprung in der WM-Wertung nach zehn von 20 Rennen auf das Red-Bull-Duo mit Mark Webber (2./120) und Vettel (3./110) weiter aus. Der Red-Bull-Rivale wollte sich am Montag wieder auf den Weg zu seinem idyllischen Bauernhof in der Schweizer Wahlheimat machen. Bloß weit weg von Kameras und Mikros.

Viel Ärger für Vettel 2012: Von Gurken-Schelte und bis Dumm-Manöver

Großer Preis von Malaysia: Vettel beschimpft Narain Karthikeyan als Gurke und noch schlimmer. Bei einem Überrundungsmanöver hatte sich der indische Pilot gewehrt und mit seinem HRT-Wagen einen Reifen von Vettel aufgeschlitzt. Vettel wurde nur Elfter. „Das ist extrem frustrierend“, klagte Vettel damals.

Großer Preis von Kanada: Vettel versteht das Hin und Her in Sachen Bodenplatte an seinem Wagen nicht. „Es ist schade, dass es einmal so rum geht und dann wieder andersrum“, sagte Vettel. Zuvor waren die Löcher im Unterboden seines Autos doch verboten worden.

Großer Preis von Europa: Vettel wettert eine Verschwörung. „Das Safety Car hat uns in gewisser Weise das Genick gebrochen“, klagte Vettel in Valencia. Nachdem er deutlich mit bis zu 20 Sekunden in Führung gelegen hatte, war das Safety Car wegen Autoteilen auf der Strecke rausgeschickt worden. Das Feld rückte wieder zusammen, kurz nach dem Restart ließ die Lichtmaschine am Red Bull Vettel im Stich. Grund: Überhitzung.

Großer Preis von Deutschland: Vettel bezeichnet ein Manöver von Lewis Hamilton als dumm. Der Brite war vom Hessen überrundet worden und passierte prompt Vettel wieder. Dadurch verlor der Heppenheimer Zeit auf den führenden Fernando Alonso und letztlich auch im Duell mit Jenson Button. Beim finalen Überholmanöver gegen Button verlässt Vettel die Strecke – Regelbruch. 20 Sekunden Strafe. Vettel wird als Fünfter statt Zweiter gewertet. Hinzu kam vor dem Rennen auch noch Aufregung um eine umstrittene Motor-Einstellung.

Der Große Preis von Deutschland 2012

1. Fernando Alonso (Spanien/Ferrari) 1:31:05,862 Std.; 2. Jenson Button (Großbritannien/McLaren) +0:06,949 ; 3. Kimi Räikkönen (Finnland/Lotus) +0:16,409 ; 4. Kamui Kobayashi (Japan/Sauber) +0:21,925 ; 5. Sebastian Vettel (Heppenheim/Red Bull) +0:23,732 (Strafe: +20 Sek.); 6. Sergio Perez (Mexiko/Sauber) +0:27,896 ; 7. Michael Schumacher (Kerpen/Mercedes) +0:28,970 ; 8. Mark Webber (Australien/Red Bull) +0:46,941 ; 9. Nico Hülkenberg (Emmerich/Force India) +0:48,162 ; 10. Nico Rosberg (Wiesbaden/Mercedes) +0:48,889 ; 11. Paul Di Resta (Großbritannien/Force India) +0:59,227 ; 12. Felipe Massa (Brasilien/Ferrari) +1:11,428 ; 13. Daniel Ricciardo (Australien/Toro Rosso) +1:16,829 ; 14. Jean-Eric Vergne (Frankreich/Toro Rosso) +1:16,965 ; 15. Pastor Maldonado (Venezuela/Williams); 16. Witali Petrow (Russland/Caterham); 17. Bruno Senna (Brasilien/Williams); 18. Romain Grosjean (Frankreich/Lotus) alle +1 Rd.; 19. Heikki Kovalainen (Finnland/Caterham); 20. Charles Pic (Frankreich/Marussia-Virgin) alle +2 Rd.; 21. Pedro de la Rosa (Spanien/HRT); 22. Timo Glock (Wersau/Marussia-Virgin); 23. Narain Karthikeyan (Indien/HRT) alle +3 Rd.; Lewis Hamilton (Großbritannien/McLaren) ausgeschieden.

Fahrerwertung nach 10 von 20 Rennen: 1. Fernando Alonso (Spanien) 154 Pkt.; 2. Mark Webber (Australien) 120; 3. Sebastian Vettel (Heppenheim) 110; 4. Kimi Räikkönen (Finnland) 98; 5. Lewis Hamilton (Großbritannien) 92; 6. Nico Rosberg (Wiesbaden) 76; 7. Jenson Button (Großbritannien) 68; 8. Romain Grosjean (Frankreich) 61; 9. Sergio Perez (Mexiko) 47; 10. Kamui Kobayashi (Japan) 33; 11. Pastor Maldonado (Venezuela); 12. Michael Schumacher (Kerpen) alle 29; 13. Paul Di Resta (Großbritannien) 27; 14. Felipe Massa (Brasilien) 23; 15. Nico Hülkenberg (Emmerich) 19; 16. Bruno Senna (Brasilien) 18; 17. Jean-Eric Vergne (Frankreich) 4; 18. Daniel Ricciardo (Australien) 2.

Konstrukteurswertung nach 10 von 20 Rennen: 1. Red Bull 230 Pkt.; 2. Ferrari 177; 3. McLaren 160; 4. Lotus 159; 5. Mercedes 105; 6. Sauber 80; 7. Williams 47; 8. Force India 46; 9. Toro Rosso 6.