In zwei Monaten beginnt die WM in Katar – laut Gastgeber ist die ganze Welt eingeladen: Nur offen schwul sein sollte man besser nicht.

Die Szene könnte nicht viel harmloser losgehen. Ali steht in seiner Wohnung im Bad vor dem Spiegel. Die schwarzen langen Haare werden mit einem Haarband in Schach gehalten. Ali wäscht sich das Gesicht und schminkt sich. Erst trägt er Wimperntusche auf – und man hört seine Stimme aus dem Off. „Mein Name ist Ali. Ich bin in Katar geboren.“ Dann zieht er die Lippen sorgfältig mit einem roten Lipliner nach. Und sagt: „Ich kam nach Deutschland, um hier Asyl zu beantragen. Katar ist wie ein Gefängnis.“

Ali ist schwul. Und das ist auch gut so. Würde möglicherweise Berlins früherer Bürgermeister Klaus Wowereit an dieser Stelle hinzufügen. Nur in Alis Heimat Katar sieht man das anders. „Wenn du LGBTQ bist, dann versteck dich oder flieh“, sagt er. Die ersten 25 Jahre seines Lebens hat Ali sich und seine Homosexualität in Katar versteckt, dann ist er geflohen. Nach Hessen in Deutschland.

Fußball WM 2022: Doku über Homosexuellen in Katar – "Versteck dich oder flieh"

Ali (28) ist die Hauptperson in dem Dokumentarfilm „Kein Regenbogen in der Wüste – Die Fußball-WM in Katar“ des Hamburger Filmemachers Michael Maske. Der Film, an dem im Rahmen einer Kooperation zwischen Telekom Magenta und dem Verlag Funke Medien auch das Hamburger Abendblatt mitgewirkt hat, ist ab Montag im neuen WM-Kanal von Magenta TV zu sehen – also fast auf den Tag zwei Monate vor dem ersten Anpfiff der Fußball-Weltmeisterschaft im Wüstenstaat.

Es ist das Porträt eines Gastgeberlandes, das einerseits mit großer Begeisterung und großem Stolz der ersten Fußball-WM in der arabischen Welt entgegenfiebert – und in dem es andererseits offenbar unüberwindbare Hürden in Sachen Menschenrechte gibt.

Maske: "Die Recherche war nicht einfach"

Wenige Tage vor der Erstausstrahlung sitzt Maske im Hamburger Schanzenviertel auf dem Schulterblatt beim Portugiesen. Hier, rund um die Rote Flora, gehört die Regenbogenflagge genauso selbstverständlich zum Straßenbild wie die Totenkopfflagge des FC St. Pauli. Maske trinkt an diesem herrlichen Spätsommerabend ein Alsterwasser – und spricht über seine Drehreise im März und April nach Doha, über seine monatelangen Recherchen und über die Frage, ob man die WM überhaupt jemals nach Katar hätte vergeben dürfen.

„Wir wollten die Probleme in Katar nach bestem Gewissen aufzeigen, wollten aber auch offen für Dinge sein, die zeigen, warum es möglicherweise auch gut sein kann, dass die WM dort stattfindet“, sagt Maske, als er berichtet, wie er mit dem Projekt des Dokumentarfilms im vergangenen Dezember gestartet ist. „Die Recherche war nicht einfach“, sagt der gebürtige Hamburger, als er erzählt, dass er und sein Team sich frühzeitig auf den roten Filmfaden geeinigt hätten, besonders auf die Situation der LGBTQ-Gemeinde in Katar aufmerksam zu machen.

Katar: Auf Homosexualität liegt Todesstrafe

„Wir waren auch auf unserer Drehreise in Doha in Kontakt mit Schwulen und Lesben. Doch am Ende sind alle Kontakte im Sande verlaufen, weil die Angst einfach zu groß war. Vor der Polizei, vor den Strafen, vor den kameraüberwachten Hotels“, sagt Maske. „Auf dem Papier gibt es noch immer die Todesstrafe in Katar.“

In dem 65-minütigen Film steht Ali in einer der ersten Szenen in seiner hessischen Wohnung in der Küche und gießt Kaffee auf, als er einen kaum zu glaubenden Satz sagt. „Du wirst gefangen genommen oder umgebracht.“

Maske: "Vor war war es unmöglich, jemanden vor die Kamera zu bekommen"

Ali ist in Doha geboren. Seine Eltern wanderten in den Sechzigerjahren als Gastarbeiter aus Palästina in das Emirat ein. Als er noch in Katar lebte und arbeitete, habe er einen Anruf erhalten, der sein Leben veränderte. „Komm nicht zurück zur Arbeit. Wenn du wiederkommst, werden sie dich mitnehmen und Ermittlungen anstellen.“

Maske hat in seinem Journalistenleben schon viel erlebt, aber Alis Geschichte ist auch für ihn eine besondere. „Es bedurfte vieler Gespräche über viele Monate, Ali davon zu überzeugen, bei unserem Film mitzumachen“, sagt er. „Alis Kontakt haben wir über den Schwulen- und Lesbenverband in Köln bekommen.“ Auch in Doha hätten er und sein Team in der LGBTQ-Community recherchiert. Aber: „Vor Ort ist es quasi unmöglich gewesen, jemanden vor die Kamera zu bekommen.“

Sexuelle Handlungen zwischen Gleichgeschlechtlichen verboten

In dem energiereichen Zwergstaat sind sexuelle Handlungen unter Frauen sowie unter Männern noch immer streng verboten. Nach Artikel 285 des Strafgesetzbuchs wird Sodomie mit bis zu sieben Jahren Freiheitsstrafe bestraft, theoretisch könnte – wie auch in Afghanistan, Pakistan, Somalia und den Vereinigten Arabischen Emiraten – unter bestimmten Bedingungen sogar die Todesstrafe ausgesprochen werden.

Doch was sagen die WM-Organisationen zu dem Mittelalter-Gesetz aus dem Jahr 1971? Auch das Abendblatt war bei der Drehreise in Doha vor Ort, um mit den Verantwortlichen zu sprechen. Und nach mehreren Versuchen stand schließlich WM-Organisationschef Nasser al Khater für ein kurzes Gespräch über die aus Katar-Sicht delikaten Fragen zur Verfügung.

WM-Chef Nasser al Kater: "Wir haben unsere Werte und Normen"

Alle Gäste aus der ganzen Welt seien herzlich willkommen, versichert der Mann mit dem traditionell-weißen Thawb am Rande einer Fifa-Veranstaltung. Auch Lesben und Schwule. „Wir sind sehr gastfreundlich.“ Aber: „Wir haben auch unsere Werte und Normen. Genauso, wie von uns erwartet wird, dass wir andere Kulturen respektieren, wenn wir reisen, erwarten wir das von den Fans. Egal, ob es eine LGBTQ- oder eine heterosexuelle Gruppe ist. Es muss nur gemäßigt sein. Das ist alles, das ist einfach.“

Scheich Tamim bin Hamad Al Thani (Emir von Katar) und FIFA-Praesident Gianni Infantino Al Khor in Kater (Archivbild).
Scheich Tamim bin Hamad Al Thani (Emir von Katar) und FIFA-Praesident Gianni Infantino Al Khor in Kater (Archivbild). © WITTERS/ JamesWilliamson

Viel besser hatte es kurz nach der Entscheidung für Katar als Gastgeberland auch der damalige Fifa-Chef Sepp Blatter nicht ausdrücken können. 2011 riet er Homosexuellen auf Nachfrage, dass sie während der WM in Katar einfach „jegliche sexuelle Aktivität unterlassen“ sollten. Ganz so plump wollte es Blatter-Nachfolger Gianni Infantino nicht ausdrücken. Er wiederholt einfach immer wieder seinen Lieblingssatz: „Katar wird die beste Weltmeisterschaft aller Zeiten.“

Infantino: "Der Fußball muss im Vordergrund stehen"

Am Rand eines Promiturniers Ende März in Doha wird Infantino von Journalisten umlagert und gefragt, was er nach den Erfahrungen mit Katar bei der nächsten WM-Vergabe beachten würde. Infantino hat ein blaues, etwas zu enges Trikot an, eine blaue Trikothose, blaue Stutzen. Er grinst die Journalisten an, sagt: „Der Fußball muss im Vordergrund stehen. Das ist das Wichtigste.“ Also keine WM mehr in Ländern wie Katar?, hakt ein Medienvertreter nach. „Der Fußball ist in der ganzen Welt beliebt“, antwortet der immer noch grinsende und viel zu blaue Infantino. „Deswegen müssen wir die Welt öffnen.“

Younes: "Keine Möglichkeit, sich als LGTBQ-Mitgleid in Katar frei zu entfalten"

Rasha Younes hat bei den Fifa-Plänen zur Weltöffnung große Zweifel. Die Expertin für LGBTQ-Rechte im Mittleren Osten bei Human Rights Watch hat von Maskes Dokumentarfilm gehört – und betont im Gespräch mit dem Abendblatt, warum es aus ihrer Sicht so wichtig ist, immer wieder auf die dramatische Situation von Schwulen und Lesben in Katar aufmerksam zu machen. „Es gibt noch immer keine Möglichkeit, sich als LGBTQ-Mitglied in Katar frei zu entfalten“, sagt sie.

So hätte ihre Organisation Aufzeichnungen und Beweise über die letzten Jahre gesammelt, nach denen in Katar versucht wird, das gesamte Thema einfach verschwinden zu lassen. „Schwule wurden verhaftet, nur weil sie etwas über ihre Sexualität online gepostet haben oder weil sie die Dating-App Grinder nutzen“, sagt Younes. „Die Regierenden machen sich nicht einmal die Mühe, mögliche Verbesserungen wie bei den Rechten für Arbeitsmigranten zu versprechen. LGBTQ ist ihre rote Linie.“

Human Rights Watch: Viele Homosexuelle flüchten aus Katar

Die Menschenrechtsexpertin wird auch im November zur WM reisen, um die Situation vor Ort zu überprüfen, um Fälle aufzuzeichnen und gegebenenfalls Betroffenen Hilfestellung zu geben. Ihre Befürchtung: „Die Organisatoren bemühen sich sehr, zu betonen, dass alle Fans willkommen seien. Doch konkrete Nachfragen zur Situation vor Ort werden schlicht nicht beantwortet. Sobald der WM-Zirkus vorbei ist, müssen schwule und lesbische Katarer mutmaßlich noch größere Repressionen als ohnehin erleiden.“

Human Rights Watch habe zahlreiche Fälle wie den von Ali dokumentiert, wo LGBTQ-Angehörige aus Katar fliehen, weil sie um ihr Leben fürchten.

Maske: "WM hätte niemals an Katar vergeben werden dürfen"

Es ist der Hauptgrund, warum Filmemacher Maske nach der Arbeit von neun Monaten an dem Dokumentarfilm eine sehr klare Haltung zu dieser WM entwickelt hat. Insgesamt hat er mehr als 50 Stunden Drehmaterial gesammelt, er hat in Doha gefilmt, in Dänemark und in Deutschland. „Die Rechte der Schwulen und Lesben werden in Katar eklatant verletzt. Wir konnten die Angst der Menschen vor Ort spüren“, sagt er.

Fußball WM Katar 2022: Das anstehende Fußball-Großereignis wird von vielen Seiten scharf kritisiert.
Fußball WM Katar 2022: Das anstehende Fußball-Großereignis wird von vielen Seiten scharf kritisiert. © Amelie Stiefvatter | Amelie Stiefvatter

Fußball WM 2022 in Katar: "Keiner kann verstehen, dass eine WM dort stattfindet"

„Deswegen bin ich auch der Auffassung, dass eine WM nach Katar niemals hätte vergeben werden dürfen. Ich habe auch viele schwule Freunde in meinem Bekanntenkreis. Keiner von ihnen kann verstehen, dass eine WM dort stattfindet, wo sie eigentlich nicht mit gutem Gewissen hinreisen können.“

Das kann auch Ali aus Maskes Film nicht. „Ich habe meine ersten 25 Lebensjahre verloren. Und diese werde ich nie wieder zurückbekommen“, sagt er in die Kamera, guckt zur Seite und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Immerhin: Er hat es geschafft. Er ist dem Gefängnis Katar entkommen. Er ist in Deutschland. Und er darf guter Hoffnungen sein, Asyl zu bekommen.

In der letzten Szene des Films sitzt Ali in seinem Wohnzimmer und schaut wieder direkt in die Kamera. „Ich hoffe, dass die Menschen sich in Zukunft lieben und Personen so akzeptieren, wie sie sind“, sagt er. „Egal, ob LGBTQ, Männer oder Frauen.“