Radprofi André Greipel über In-Team-Feind Mark Cavendish, die Vattenfall Cyclassics in Hamburg und die Tugenden eines Sprinters.

Hamburg. Als die Hoffnung schon schwindet, taucht André Greipel doch auf und fragt: "Sind Sie vom Abendblatt?" Ein Stau zwischen Rostock und Hamburg habe ihn aufgehalten.

Abendblatt:

Herr Greipel, wie oft sind Sie auf dem Weg zum Interview auf der Straße von Passanten angesprochen worden?

André Greipel:

Ich habe direkt vor der Tür geparkt. Wäre ich zu Fuß gekommen, wäre ich aber auch nicht erkannt worden. Radsport ist nicht populär in Deutschland. Schon lange nicht mehr.

Dabei sind Sie derzeit der erfolgreichste Fahrer. Ist es undankbar, in Deutschland Radprofi zu sein?

Ich bin es ja nicht geworden, um Aufmerksamkeit zu bekommen, sondern weil ich den Sport liebe. Am Ende gibt mir der Erfolg recht, das reicht mir an Genugtuung.

Vielleicht liegt die mangelnde Bekanntheit daran, dass Sie Ihr Team HTC-Columbia nie bei der Tour de France hat starten lassen. Werden die Stars im Radsport nur bei der Tour gemacht?

Aus medialer Sicht auf jeden Fall. Dabei gibt es noch genug andere große Radrennen. Der Giro und die Vuelta dauern auch drei Wochen, und meines Erachtens sind die Leiden dort sogar noch größer als bei der Tour. Die Streckenführung beim Giro d'Italia in diesem Jahr war für mich als Sprinter brutal.

Wie viel Wut im Bauch über die entgangene Nominierung fährt am Sonntag bei den Vattenfall Cyclassics noch mit?

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Keine. Ich wäre ein schlechter Sportler, wenn mich die Entscheidung nicht wurmen würde. Ändern kann ich sie nicht.

Mark Cavendish, der statt Ihnen zur Tour durfte, hat fünf Etappen gewinnen können. Hat HTC-Columbia nicht eigentlich alles richtig gemacht?

Fünf Etappensiege geben dem Team recht, aber nach seinem ersten Sprint, in dem er Zwölfter geworden ist, haben einige schwarzgesehen - das Grüne Trikot wurde schon abgeschrieben.

Wären Sie bereit gewesen, für Cavendish in einer Mannschaft zu fahren, nachdem er Ihre Erfolge als "Siege bei beschissenen kleinen Rennen" abqualifiziert hat?

+++ Verkehrsbehinderungen wegen der Cyclassics +++

Ich fahre Rad, um Rennen zu gewinnen. An allen Siegen bei den "beschissenen Rennen" hat die Mannschaft einen Riesenanteil. Er greift also nicht nur mich an, sondern auch meine Teamkollegen. Ich war ihm gegenüber ansonsten immer loyal; wenn das Team es verlangt hat, habe ich die Sprints für ihn angefahren. Aber seit jenem Interview ist das Thema für mich gegessen.

Bei der Spanienrundfahrt sind Sie auch nicht dabei.

Ich hätte starten können, aber ich habe mich dagegen entschieden, nachdem ich erfahren habe, dass Cavendish dabei ist. Wenn ich gefahren wäre, dann so wie im letzten Jahr, als ich vier Etappen und das Sprinttrikot gewinnen konnte.

Sie werden zum belgischen Team Omega-Pharma-Lotto wechseln. Haben Sie den Zweikampf mit Cavendish aufgegeben?

+++ Hamburg bewegt sich +++

Ich will einfach nicht länger warten. Ich bin jetzt 28 und will an den großen Radrennen teilnehmen. Die Teampolitik der letzten zwei Jahre hat gezeigt, dass ich dafür im falschen Team war. An der Leistung hat es jedenfalls nicht gelegen.

Cavendish ist für seine Fahrweise auch von Kollegen scharf kritisiert worden. Wie rücksichtslos darf oder muss ein Sprinter sein?

Wenn ich auf dem Rad bin, bin ich ein anderer Mensch. Da habe ich nur ein Ziel vor Augen. Im Sprint muss man auch mal durch Lücken fahren, wo keine sind. Ellbogen braucht jeder Sprinter. Aber man möchte keine Konkurrenten behindern. Solange die Hände am Lenker bleiben, ist alles fair.

Wie gehen Sie mit der Gefahr um?

Wenn ich anfange, Angst zu haben und über Stürze nachzudenken, kann ich gleich aufhören. Manchmal ist ja nur fünf Zentimeter Platz zwischen mir und dem Fahrer daneben.

Die Teamtaktik bei den Cyclassics wird auf Sie zugeschnitten sein. Was rechnen Sie sich aus?

Die Erfahrung lehrt, dass es hier meistens einen Sprint einer kleineren Gruppe von 50 bis 80 Mann gibt. Letztes Jahr war ich bis in die Nähe des Ziels dabei, dann standen ein paar Baustellenbaken im Weg. Ich hoffe, dass ich diesmal um den Sieg mitfahren kann. Wenn man aber beim letzten Waseberg-Anstieg hintendran ist, hat man keine Chance.

Woher wissen Sie, wann Sie einen Sprint anziehen müssen?

Das ist eine Gefühlssache. Einen guten Sprinter zeichnet aus, dass er in Bruchteilen von Sekunden das Richtige macht. Erfahrung spielt eine große Rolle. Aber es muss auch angeboren sein.

Könnten Sie sich auch über einen zweiten oder dritten Platz freuen?

Nein. Sprinter werden an Siegen gemessen, nur das zählt.

Stars der Szene, die als dopingbelastet gelten, sind bei den Cyclassics unerwünscht. Haben Sie Verständnis für diese Haltung der Veranstalter?

Der Radsport hat sich in den letzten drei, vier Jahren derartig geändert, dass jeder kapiert haben sollte, worum es geht. Prinzipiell denke ich, dass jeder eine zweite Chance verdient hat, der seine Strafe abgesessen hat.

Was lässt Sie glauben, dass es wirklich sauberer zugeht?

Dass ich im Feld den Berg hochkomme. Aber vielleicht habe ich mich ja auch nur verbessert. Und dass es mehr Etappen gibt, auf denen ruhiger gefahren wird. Wobei ich die Hochzeit des Dopings als Aktiver nicht miterlebt habe.

Sind Sie wütend auf die, die durch ihren Betrug dem Radsport geschadet haben?

Ja, für mich sind das schon Mitschuldige. Den Radsport haben sie kaputtgemacht, zumindest in Deutschland.

Und woanders?

Tom Boonen ist in Belgien nach zwei positiven Kokaintests menschlicher geworden. Ich will das nicht gutheißen. Aber ich würde mir wünschen, dass wieder über das Positive des Radsports - und damit meine ich keine Dopingproben - berichtet wird.

Sind Sie im Ausland populärer?

Ja. In Belgien, Polen, Australien zum Beispiel. Da erkennen mich die Leute auf der Straße.