Nach Pleite gegen Vitali Klitschko prügelt sich Dereck Chisora mit David Haye. Acht Wochen Pause für Klitschko wegen Schulterblessur.

München. Spätestens als die herbeigeeilten Polizeibeamten begannen, den mit Getränkeresten und Blut befleckten Boden im Presseraum der Olympiahalle nach Spuren abzusuchen, war allen Anwesenden klar, dass sie einem denkwürdigen wie dunklen Kapitel der Boxgeschichte beigewohnt hatten. Mit einer in Deutschland im Rahmen eines Berufsboxkampfs nie erlebten Brutalität hatten die englischen Rivalen Dereck Chisora und David Haye sowie deren Trainer Don Charles und Adam Booth die Pressekonferenz im Anschluss an Chisoras einstimmige Punktniederlage gegen Vitali Klitschko für eine Privatfehde missbraucht, an deren Ende beide Coaches aus Risswunden im Gesicht bluteten.

Die körperlichen Wunden werden schnell verheilt sein, die sportlichen und rechtlichen Folgen dürften das British Boxing Board of Control (BBB of C) noch lange beschäftigen. Nachdem Chisora Klitschko beim Wiegen am Freitag eine Ohrfeige verpasst hatte, hatte der Verband eine hohe Geldstrafe angekündigt, die zusätzlich zu den vom Weltverband WBC verhängten 50 000 Dollar Strafgeld von der Kampfbörse des 28-Jährigen abgezogen werden sollte. Gestern kündigte das BBB of C an, Chisora und Haye die Lizenz zu entziehen. Der Bund Deutscher Berufsboxer will sie lebenslänglich für Kämpfe in Deutschland sperren. Zudem wurde gegen die vier Schläger Strafanzeige gestellt. Chisora und sein Trainer wurden am Sonntag um 10.30 Uhr im Terminal 2 des Münchner Flughafens festgenommen, im Polizeipräsidium sieben Stunden vernommen, ehe der Verdacht der schweren Körperverletzung fallen gelassen wurde. Ermittelt wird weiterhin wegen leichter Körperverletzung. Haye entging der Festnahme, weil er um sechs Uhr morgens abgeflogen war.

Entzündet hatte sich der Streit, nachdem Haye, der den Kampf für den englischen Pay-TV-Kanal BoxNation co-kommentiert hatte, auf der Pressekonferenz lautstark ein Duell mit dem älteren Klitschko forderte. Daraufhin hatte Chisoras Manager Frank Warren angeregt, Haye, der im Juli 2011 in Hamburg gegen den jüngeren Klitschko-Bruder Wladimir verloren hatte und danach zurückgetreten war, solle zunächst gegen seinen Mann antreten. Daraufhin beleidigte Haye Chisora als "Verlierer", woraufhin dieser mit den Worten "Sagst du mir das auch ins Gesicht?" vom Podium stieg und auf den rund 15 Meter entfernt stehenden Haye zustürmte. Es entbrannte zunächst eine Rangelei, die eskalierte, als beide Trainer eingriffen. Haye und Charles schlugen wie von Sinnen aufeinander ein. Als Haye dann ein Kamerastativ packte und dies gegen den blutenden Charles erhob, erlitt sein Trainer Booth im Getümmel einen tiefen Cut auf der Stirn, mutmaßlich durch den unkontrollierten Einsatz des Stativs. Erst danach konnte das Sicherheitspersonal die Lage beruhigen.

Die Klitschkos zeigten sich tief betroffen. Wladimir, der unter den Pressevertretern saß, sagte: "Das ist eine Schande für den Sport, so etwas darf nicht sein." Vitali, der nach dem Ende der Keilerei umgehend den Saal verließ, sagte: "Das sind schlechte Vorbilder und schlechte Botschafter für den Sport." An Chisoras Adresse, der vor dem Kampf im Ring sein rüpelhaftes Benehmen vom Wiegen fortgesetzt hatte, indem er Vitali bei dessen Walk-in schubste und Wladimir mit Wasser bespuckte, sagte er: "Sportlich habe ich Respekt vor seiner Leistung, menschlich hat er jeden Respekt verloren."

Zwei elementare Dinge gingen in der Schlacht nach dem Kampf, den 12 500 Fans in der Halle und bis zu 13,73 Millionen bei RTL verfolgten, fast unter. Zum einen war Chisora, der in England den Ruf eines verrückten und bisweilen kriminellen Lautsprechers hat, der mutigste Gegner, der seit Vitalis Comeback im Oktober 2008 mit dem WBC-Weltmeister im Schwergewicht im Ring stand. Zwar konnte der boxerisch limitierte und mit 1,87 Meter 15 Zentimeter kleinere Herausforderer selten wirklich gefährliche Aktionen ausführen, dennoch blieb er über zwölf Runden aktiv, marschierte auch bei schweren Kopftreffern unentwegt nach vorn und schaffte es vor allem, immer wieder die Distanz zu verkürzen, um der Schlaghand des Champions deren verheerende Wirkung zu nehmen.

Dass ihm dies gelang, und das ist der zweite und wohl wichtigste Punkt, lag daran, dass sich Klitschko bereits in der vierten Runde an der linken Schulter verletzte und fortan seine Führhand nicht mehr einsetzen konnte. "Er hatte keine Kraft mehr im Arm und musste den Kampf deshalb nur mit der Rechten aufbauen. Dass er sich durchgebissen und klar gewonnen hat, verdient größten Respekt", sagte Trainer Fritz Sdunek. Dem Weltmeister war es sichtlich peinlich, eine Verletzung als Erklärung dafür anzuführen, dass ihm der versprochene Knock-out nicht gelungen war, zumal Haye dies nach seiner Niederlage gegen Wladimir, die er mit seinem gebrochenen Zeh entschuldigte, sehr negativ ausgelegt worden war. Der Unterschied ist allerdings, dass Klitschko trotz der Blessur, die ihn sichtbar behinderte, den Kampf mit 119:111, 118:110 und 118:110 zwar deutlicher, als er war, aber dennoch klar gewann. "Ich suche keine Ausreden, aber jeder weiß, dass die Linke für mich der Schlüssel zum Knock-out ist", sagte der 40-Jährige.

Am Sonntag wurde bei einer Kernspintomografie in München ein Sehnenanriss diagnostiziert. In den nächsten Tagen werden weitere Untersuchungen folgen, eine Operation scheint nicht erforderlich. Nach zwei Monaten sollte die Blessur mit konservativer Behandlung ausgeheilt sein. "Wenn ich mit einem Arm kämpfen kann, habe ich große Reserven. Deshalb war das nicht mein letzter Kampf", sagte Klitschko, der im September wieder kämpfen will. Die Zeit könnte jedoch knapp werden. Im Juni ist er bei der Fußball-EM in seiner Heimat Ukraine im Organisationskomitee gefordert, im November stehen die Bürgermeisterwahlen in Kiew an, bei denen Klitschko kandidiert. Sollte er dort gewinnen, wird er sich nur noch auf die Politik konzentrieren.

Zunächst steht aber für Bruder Wladimir die Verteidigung seiner WBO-, IBF- und WBA-Titel an. Am 3. März tritt er in Düsseldorf gegen den Franzosen Jean-Marc Mormeck an. Der gilt zwar auch als Lautsprecher, doch Szenen wie die in der Münchner Skandalnacht sind nicht zu befürchten.