Holsteiner Bauern brachten im 19. Jahrhundert eine besondere Gangart aus England mit der Kraft und Ausdauer ihrer Kutschpferde zusammen - und legten den Grundstein des Erfolges.

Hamburg. Uralte Eichen säumen die Auffahrt zum Schloss, es blüht an allen Ecken. Auf einer Koppel neben dem Schlossplatz mit dem steinernen Brunnen toben drei Stuten mit ihren Fohlen. Abseits der Wirtschaftsgebäude ist ein Parcours mit bunten Hindernissen aufgebaut. Einsam dreht ein Reitersmann dort seine Runden. Schleswig-holsteinische Idylle auf 1400 Hektar, ein Bild für Götter, ein Paradies für Pferde.

"Das ist Rolf-Göran Bengtsson", erwähnt Schlossherr Breido Graf zu Rantzau fast beiläufig und deutet zum Mann auf dem Pferd. In der Ruheoase des anno 1526 errichteten Schlosses Breitenburg vor den Toren Itzehoes bereitet sich der Weltranglistenvierte aus Schweden auf das 78. Deutsche Springderby in Klein Flottbek vor. In der Reetdachkate nebenan ist Michael Rüping zu Hause, Europameisterschafts-Dritter (1983 und 1985), Deutscher Meister (1985) und Derby-Sieger (1987). Auch sein Sohn Philip trainiert in Breitenburg.

Breido Graf zu Rantzau (57) bittet zum Kaffee in die Wohnhalle. "Recte faciendo neminem timeas" prangt in goldenen Lettern über der Eingangstür: "Tue recht und fürchte niemanden." Das passt. Zum Menschenschlag hier, aber auch zu den Reitern überall im Lande, die in Eintracht mit ihren Pferden dafür sorgen, dass Schleswig-Holstein oben ist im Springsport.

"Holstein gegen den Rest der Welt" lautet denn auch die Parole, mit der Ex-Europameister und Derby-Chef Paul Schockemöhle den Wettstreit um das Blaue Band von Klein Flottbek auf den Punkt bringt. Zwar hat er die Pferde aus Holsteiner Zucht im Sinn, doch trifft sein Qualitätsmerkmal auch auf die Reiter zu.

In Konkurrenz mit Holsteinern, Hannoveranern, Oldenburgern, Westfalen und neuerdings wieder Mecklenburgern und Brandenburgern hinken die Pferde aus anderen Bundesländern in der Zucht, aber auch auf den Parcours oft hinterher.

Die Geschichte des 1920 erstmals durchgeführten Derbys, das zu den größten Herausforderungen weltweit gehört, ist untrennbar nicht nur mit dem Parcours-Erfinder und Hamburger Kaufmann Eduard F. Pulvermann verknüpft, sondern auch mit namhaften Reitern und legendären Pferden aus dem Norden. Allen voran Fritz Thiedemann mit seinem Holsteiner Meteor ( 2000) und der Hamburger Achaz von Buchwald mit seinem Holsteiner Lausbub. Es ist alles andere als ein Zufall, dass vor dem Amtssitz des Ministerpräsidenten in Kiel ein Denkmal Meteors steht.

Kraft, Stärke, Ausdauer und enormes Springvermögen, aber auch Charakter und unerschütterlicher Wille sind die Markenzeichen der Holsteiner Zucht - mit weltweitem Echo. "Die Hälfte der hierzulande versteigerten Holsteiner gehen ins Ausland", weiß Graf zu Rantzau, selbst jahrzehntelang Turnierreiter und heute Vorsitzender des Holsteiner Verbands sowie Präsident der Deutschen Reiterlichen Vereinigung in Warendorf mit 760 000 Mitgliedern.

Dass es überhaupt so weit kam, basiert auf einer Marotte des gehobenen Bürgertums und des Landadels Mitte des 19. Jahrhunderts. Seinerzeit waren Kutschpferde, sogenannte Karossiers, als Transportmittel groß im Kommen. Wobei es als schick galt, wenn diese über eine besonders spektakuläre Gangart verfügten: ein extremes Anheben, fast Recken der Vorderbeine.

Folglich wurden "Hackneys", eine in eben dieser Technik spezialisierte Rasse, aus Großbritannien und Holland importiert und mit hiesigen Stuten gepaart. Letztere, zumeist edlere Arbeitspferde aus der Landwirtschaft und der Kutschfahrt, gebaren Fohlen, die später ein verblüffendes Talent offenbarten: Sie kamen einfach besser über hohe Hindernisse. Der ausgeprägten Vorderbein-Technik sei Dank.

Mancher Landwirt aus dem Norden nutzte den zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkommenden Springreitsport auf diese Weise als zusätzliche Einnahmequelle. Das Resultat konnte sich sehen lassen, wie Kurt Hasse mit der Holsteinerin Tora als Olympiasieger 1936 dokumentierte. Der streng militärisch orientierte Reitstil der Vergangenheit hatte fortan ausgedient - den Pferden wurde längere Leine, sprich mehr Freiheit gelassen. Und der Reiter saß nicht nur im Sattel, sondern musste mitgehen, sich anschmiegen.

Daran hat sich bis heute im Prinzip wenig geändert. "Norddeutschland ist führend im deutschen Springreitsport", sagt Klaus Meyer (70), Vorsitzender des Derby-Gastgebers Norddeutscher und Flottbeker Reiterverein (NFR), "und zwar Pferde und Reiter betreffend." Achaz von Buchwald (62), zweifacher Derbysieger und namhafter Züchter in Hamburg-Falkenstein, bestätigt: "Im Norden werden die besten Pferde gezüchtet." So richtig rund wird diese Erkenntnis mit einer Weisheit aus der Zunft: "Ein wirklich gutes Pferd macht einen guten Reiter!"

Zahlreiche Bauern formten nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Not eine Tugend, versuchten sich in der Zucht und setzten ihre Söhne und Töchter in den Sattel. Das brachte sportlichen Spaß, diente zudem der Werbung für die eigene Zucht und förderte so den Verkauf. Den Junioren war der Umgang mit Pferden von Kindesbeinen an vertraut, weil sie natürliche Partner in der Landwirtschaft waren. Während der Gebrauch von Pferden in industrialisierten Regionen zurückging, blieb in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und dem Oldenburger Land vieles beim Alten.

Mit der Konsequenz, dass im Norden vielerorts Talente heranwuchsen - zweibeinige und vierbeinige. So war Thiedemann, fünfmal Gewinner des Blauen Bandes in Klein Flottbek, von Haus aus ein Bauernsohn aus Poppenwurth bei Heide. Lange Jahre beherrschte kein Zweiter den längsten Parcours der Welt mit so legendären Naturhindernissen wie Pulvermanns Grab, Eisenbahnschranken, Holsteiner Wegesprung und 3,80 Meter hohem Wall so meisterhaft wie Thiedemann.

Wenn der bescheidene Sportsmann mit der genialen Zügelführung nach seinen Triumphen mit Loretto (1950), Meteor (1951), Diamant (1954), Finale (1958) und Retina (1959) zur Ehrenparade aufgaloppierte, offenbarten die Hanseaten die sizilianische Facette ihres Gemütswesens. "Bis die Eichen in Klein Flottbek bebten", schwören Augenzeugen "bei Pulvermanns Grab!" Doch, keine Sorge, der Kauf- und Reitersmann liegt dort nicht, das Hindernis heißt nur so.

Des "Alten Fritz" Thiedemanns Erbe wurde von anderen Bauernfamilien aus der norddeutschen Nachbarschaft erfolgreich angetreten. Zum Beispiel von den Nagels aus Friedrichskoog. Vater Reimer übernahm Hof und Pferde von seinem Vater, Sohn Tjark zählt ebenso wie Enkel Björn zu den besten Springreitern Deutschlands. Und ihr Verwandter Carsten-Otto Nagel, heute wohnhaft in Wedel, sorgte 1999 mit seinem Sieg auf Wienerwirbel für eine Sensation im Derby.

Auch der Schröder-Clan aus Lentföhrden bei Kaltenkirchen bringt Landwirtschaft und Zucht erfolgreich auf einen Nenner. Senior Ewald Schröder kann mit Stolz Zeuge sein, wenn Sohn Dirk und Enkel Andre an diesem Wochenende in Klein Flottbek große Sprünge machen wollen. Das "Hoch im Norden" bekommt so einen sportlichen Sinn.