Staatsanwaltschaft geht bei Vergewaltigungsserie von zwei Tätern aus. Einer muss sich vor Gericht verantworten, der andere ist noch frei.

Reinbek. Läuft der Triebtäter noch frei herum, der im vergangenen Jahr zwei Frauen am Reinbeker Bahnhof entführt und vergewaltigt hat? Die Staatsanwaltschaft in Lübeck beantwortet diese Frage eindeutig mit Ja. Zwar muss sich derzeit der 28-jährige Stephan H. aus Wentorf wegen Vergewaltigung vor dem Lübecker Landgericht verantworten , jedoch ist er nicht für alle fünf Taten der Reinbeker Vergewaltigungsserie verantwortlich. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls die Anklagebehörde. "Die Vorgehensweise war eine andere. Zudem gibt es weitere Details, die darauf hindeuten, dass zwei Taten nicht dem Angeklagten zuzuordnen sind", sagt der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Klaus-Dieter Schultz.

Doch wer ist der zweite Mann, der im Februar und April 2010 zwei Taten beging? Eine Frage, die offenbar unbeantwortet bleibt. Denn trotz intensiver Ermittlungen der Polizei führte keine Spur zu dem Sexualstraftäter. "Nach unserer Einschätzung gibt es derzeit auch keine erfolgversprechenden Ermittlungsansätze mehr", sagt Oberstaatsanwalt Schultz und fügt hinzu: "Die Kriminalbeamten haben alle Möglichkeiten ausgeschöpft, aktuell ist da nichts mehr zu machen."

+++Vergewaltiger Stephan H.: "Schrei nicht, sonst stirbst du"+++

Die Polizei möchte sich zu den ungelösten Fällen nicht äußern. Deswegen bleibt die Frage unbeantwortet, weshalb die Beamten die Öffentlichkeit nicht darüber informierten, dass es offenbar einen weiteren Täter gibt. Und warum sie eine der beiden ungeklärten Vergewaltigungen gänzlich verschwiegen haben. Erst jetzt, im Prozess gegen Stephan H., wurden diese brisanten Details bekannt.

Im Mai 2010 ging die Reinbeker Kriminalpolizei mit einem Phantombild eines Vergewaltigers an die Öffentlichkeit. Die Beamten gaben seinerzeit bekannt, dass der gesuchte Mann im Februar und März desselben Jahres jeweils eine Frau entführt, verschleppt und vergewaltigt hatte. Schnell geriet die Polizei in die Kritik, weil sie sich erst mehr als drei Monate nach der ersten und sieben Wochen nach der zweiten Tat an die Öffentlichkeit wandte - und auch erst dann vor dem Sexualstraftäter warnte. Dass es zu diesem Zeitpunkt sogar schon ein drittes Vergewaltigungsopfer gab, wurde gar nicht kommuniziert. Im April 2010 war eine Frau am Reinbeker Bahnhof entführt und anschließend missbraucht worden.

Obwohl Spezialisten des Landeskriminalamtes (LKA) in Kiel mithilfe des zweiten Opfers eine Phantomzeichnung erstellen konnten, tappte die Polizei bei der Suche nach dem Vergewaltiger mehr als ein Jahr im Dunkeln. Keiner der 220 Hinweise entpuppte sich als heiße Spur. Die Ermittler planten sogar schon einen Massen-Gentest. Experten des LKA hatten eine Fallanalyse erstellt. Mit dem Täterprofil wollten die Ermittler bei der Staatsanwaltschaft in Lübeck eine DNA-Reihenuntersuchung erwirken. So weit kam es aber nicht. Der gesuchte Täter schlug am 20. März dieses Jahres erneut zu:

Es ist ein Sonntagmorgen. Eine 38 Jahre alte Frau hat die Ü-30-Party im Sachsenwald-Forum besucht. Gegen 3.30 Uhr ist die Reinbekerin allein auf dem Heimweg. An der Kirchenallee hört sie plötzlich Schritte hinter sich, dann wird sie von hinten in den Schwitzkasten genommen. Der Triebtäter versucht, sein Opfer in eine Sackgasse zu verschleppen. Doch das wehrt sich, schreit um Hilfe. Anwohner hören die Rufe und alarmieren die Polizei.

Der Disponent in der erst einen Monat zuvor ans Netz gegangenen zentralisierten Polizeileitstelle in Lübeck kennt sich in Reinbek offenbar nicht aus. Er findet in seinem Computersystem zunächst die Straße nicht, er erkennt offenbar auch nicht, dass dieser Anruf in einem Zusammenhang mit der Vergewaltigungsserie stehen könnte. Nachdem der Anrufer dem Polizisten den Straßennamen buchstabiert hat, schickt der lediglich einen Streifenwagen zum Tatort, vergisst jedoch, der Besatzung eine Hausnummer mitzuteilen.

Was dann geschieht, geht aus der Aussage eines Streifenpolizisten vor Gericht hervor: Weil sie eben keine Hausnummer kennen, fahren die Beamten die Kirchenallee langsam ab und suchen nach der Frau. Der Triebtäter sieht, wie die beiden Scheinwerfer des Streifenwagens langsam auf ihn zurollen, und lässt von seinem Opfer ab. Die 38-Jährige läuft zu den Beamten und erzählt, was passiert ist. Über Funk rufen die Polizisten Verstärkung und fahren mit dem Opfer auf die Reinbeker Wache zur weiteren Vernehmung. Lediglich zwei Streifenwagen, besetzt mit drei Polizisten, fahren zum Tatort, um nach dem Sexualstraftäter zu fahnden. Ohne Erfolg.

Wie das Abendblatt aus Polizeikreisen erfahren hat, setzte diese Tat die Reinbeker Kripo weiter enorm unter Druck. Zumal die ersten drei Frauen am Reinbeker Bahnhof, der gegenüber der Reinbeker Polizeiwache liegt, entführt worden waren.

Doch nun hatte die Polizei einen entscheidenden Hinweis. Bereits zum zweiten Mal hatte der Triebtäter nach einer Ü-30-Party zugeschlagen. Für die Kripo Reinbek offenbar Grund genug, einen Lockvogeleinsatz zu planen. Mit Erfolg: Am 29. Mai dieses Jahres schnappte die Falle zu.

Es ist wieder ein Sonntagmorgen nach einer Ü-30-Party. Eine Stormarner Polizistin geht eine Straße in der Nähe des Sachsenwald-Forums entlang. Die 29 Jahre alte Zivilbeamtin macht jedoch keinen Schritt, ohne von einer Spezialeinheit des Landeskriminalamtes beobachtet zu werden. Plötzlich packt sie ein Mann von hinten und würgt sie. Sofort sind ihre Kollegen zur Stelle und nehmen den Angreifer fest. Es ist der Fleischer Stephan H. aus Wentorf. Ein DNA-Abgleich wird wenige Tage später belegen: H. ist auch derjenige, der eines der Opfer am 28. März 2010 entführt und vergewaltigt hatte.

Auch damals ist es ein Sonntag nach einer Ü-30-Party. Die 21 Jahre alte Hamburgerin verlässt gegen 5.30 Uhr die Feier und geht zum Bahnhof. Plötzlich packt sie ein Mann von hinten und würgt sie. Der Triebtäter zerrt die junge Frau anschließend an die Bahngleise und vergewaltigt sie dort. Sowohl diese Tat als auch die versuchte Vergewaltigung im März dieses Jahres ordnen die Ermittler Stephan H. zu, der sich seine Opfer offenbar auf Ü-30-Partys suchte und sie von hinten würgte.

Eine Vorgehensweise, die nicht zu den Vergewaltigungen im Februar und April 2010 passt. Das erste Opfer wurde an einem Dienstag am Bahnhof entführt, am 2. Februar 2010. Die 30 Jahre alte Frau stieg am Bahnhof Reinbek aus einer S-Bahn. Sie ging zu ihrem Auto, das sie nur wenige Meter entfernt an der Ladestraße geparkt hatte. Kurz nachdem sie eingestiegen war, riss ein Mann die Beifahrertür auf, sprang ins Auto. Der Unbekannte bedrohte die Frau mit einer Waffe und zwang sie, an einen abgelegenen Ort zu fahren. Dort verging er sich an ihr. Nach der Tat musste das Opfer seinen Peiniger in die Hamburger Innenstadt fahren. Dort verließ der Mann das Auto und flüchtete. Wie sich die Tat am 9. April, einem Freitag, zutrug, ist indes unklar. Laut Staatsanwaltschaft wurde eine Frau entführt und vergewaltigt, die auf dem Weg zum Reinbeker Bahnhof war. "Weil die Frau nicht unmittelbar nach der Tat zur Polizei gegangen war, konnten keine DNA-Spuren gesichert werden", sagt Oberstaatsanwalt Klaus-Dieter Schultz.

Anders war es bei der Tat am 2. Februar. Damals konnten die Ermittler einen genetischen Fingerabdruck sichern "Ein DNA-Abgleich belegt jedoch eindeutig, dass diese nicht zu Herr H. passt", sagt Schultz. Wusste die Reinbeker Kripo also schon damals, als sie die Öffentlichkeitsfahndung startete, dass sie es mit zwei Tätern zu tun hat? Eine Antwort gibt es darauf bisher nicht.

Der Prozess gegen Stephan H. wird heute fortgesetzt.

(abendblatt.de)