Boostedt. Ahmed aus Pinneberg sitzt in der Transitzone eines Lagers fest. Trotz Ausbildungsvertrag soll er nicht in Deutschland bleiben dürfen.

Für Ahmed S. ist jeder Tag gleich. 7.30 Uhr erwacht er in seinem kleinen, kargen Zimmer in der Landesunterkunft Boostedt, irgendwo zwischen Neumünster und Bad Segeberg. Der Blick nach draußen ist verschleiert, die Fensterscheibe beinahe blind – fast so unklar wie die Zukunft des Pinnebergers in Deutschland.

Zuerst betet Ahmed. Zwar müsste er das seinem Glauben nach schon einige Stunden eher tun, erzählt er, aber das sei dann doch etwas zu früh für seinen Geschmack. Allah hat sicherlich nichts dagegen, wenn er sich erst halb acht auf seinen violett-golden verzierten Teppich kniet, schätzt der Muslim.

Schwester Nourhan darf bleiben, Ahmed droht die Ausweisung

Vermutlich verschaffen ihm die insgesamt fünf täglichen Gebete Halt. Sie bieten Routine in seinem Leben in der Transitzone. Denn der 20-Jährige wartet in Boostedt auf seine Abschiebung. Er ist der Bruder des ebenfalls von der Abschiebung bedrohten 14-jährigen Mädchens Nourhan, dessen Schicksal ganz Pinneberg bewegte und das nun vorerst gerettet ist – auch wegen des Einsatzes ihrer Mitschüler.

Für die 14 Jahre alte Nourhan S., die Schwester von Ahmed, hatten sich ihre Mitschüler in Pinneberg eingesetzt.
Für die 14 Jahre alte Nourhan S., die Schwester von Ahmed, hatten sich ihre Mitschüler in Pinneberg eingesetzt. © Burkhard Fuchs | Privat

Bei ihrem Bruder ist das anders: Nachdem er sich nun vier Jahre lang in Deutschland aufgehalten hat, soll der aus dem Jemen stammende junge Erwachsene nach Rumänien abgeschoben werden, weil sich seine Familie zuerst dort registriert hatte, bevor sie weiter nach Pinneberg reiste. Dass er hervorragend Deutsch spricht und einen Ausbildungsvertrag vorliegen hat, interessiert die Ämter trotz Fachkräftemangel-Schauergeschichten offensichtlich nicht.

Von Pinneberg nach Boostedt: Hier wartet Ahmed S. auf seine Abschiebung

„Ich hasse diesen Ort einfach“, sagt Ahmed – eher ein Junge als ein Erwachsener – kurz nachdem er die Kontrolle am Eingang zur Landesunterkunft Boostedt passiert hat. Rauchende Sicherheitsmänner mit breiten Schultern stehen da neben dem Pförtnerhäuschen. Wer hinein oder heraus will, muss sich ein- und auschecken. Es wird genau kontrolliert, wer wie lange auf „Freigang“ ist.

In Boostedt sind die Tage eintönig. Ahmed hat hier keine Freunde, erzählt er. Auch weil die meisten der bis zu 2700 Migranten sich nur kurz in der Unterkunft aufhalten. Sie sind gerade in Deutschland angekommen und warten auf eine Wohnung. Viele von ihnen stammen aus der Ukraine, dem Iran oder Syrien. Endstation wie für Ahmed ist hier für fast niemanden – und der 20-Jährige hat keine Lust mehr, jedem Neuen ständig seine Geschichte erzählen zu müssen.

Also verbringt er seine Tage damit, zum Aldi zu pilgern, seine Familie in Pinneberg zu besuchen und Actionfilme bei Netflix zu schauen. „Spiderman“ und „Fast and Furious“ sind für ihn nicht nur vergnüglich, sondern auch lehrreich. Ahmed schaut die Blockbuster auf Deutsch „und dann mache ich einfach nach, was die sagen.“ Das sei auch das ganze Geheimnis seines sehr guten Sprachvermögens, meint er.

Wechselnde Sachbearbeiter, lange Wartezeiten – ein zäher Kampf mit den Behörden

Nun, die Behörden haben ganz offensichtlich auch ihre Spuren hinterlassen in Ahmeds Wortschatz. „Zuständige Sachbearbeiterin“, „Ausbildungsduldung“, „Aufenthaltstitel“ – das sind Worte, die gehen ihm leicht über die Lippen. Denn im Landesamt für Zuwanderung und Flüchtlinge auf dem Gelände der Unterkunft hat er schon viele Stunden verbracht, seit er im Januar nach Boostedt kam.

Ständig wechselnde Sachbearbeiter, bislang fünf an der Zahl, hätten ihm immer wieder Hoffnung gemacht, in Deutschland bleiben zu dürfen. Es habe geheißen, er brauche nur eine Ausbildung. So legte Ahmed zunächst einen Vertrag des Unternehmens Tchibo vor, später einen von Douglas. Seitdem sei „Du wirst in den nächsten Tagen Bescheid bekommen“ die Standardantwort des Amtes gewesen. Wieder und wieder und wieder.

„Ich möchte ein normaler Mensch sein und meine Ausbildung machen“, sagt Ahmed

Die Ausbildung hat mittlerweile längst angefangen. Arbeiten darf Ahmed weiterhin nicht. Schlimmer sogar: Erst vor wenigen Tagen erreichte ihn die Hiobsbotschaft, dass das Landesamt seinen Antrag auf eine Ausbildungsduldung ablehnt. Ahmed soll weiterhin abgeschoben werden.

Selbst mithilfe eines Anwalts war es nicht möglich, ihm ein würdiges Leben in Deutschland zu erstreiten. Klagen könne man jetzt noch, teilt der Anwalt mit. Doch bis dabei etwas herauskomme, dauere es in der Regel mindestens zwei Jahre.

„Ich bin gerade 20 geworden. Ich versuche, mir eine Zukunft zu bauen – und sie zerstören mir meine Zukunft einfach“, sagt Ahmed und meint die deutschen Behörden. Er verstehe nicht, wieso das ganze Land „Fachkräftemangel“ schreit, doch Willige nicht arbeiten lässt. „Ich habe ja einen Ausbildungsvertrag, ich brauche nicht mal Sozialhilfe. Ich möchte doch einfach nur ein normaler Mensch sein und meine Ausbildung machen“, sagt er.

Tage, Monate, Jahre: Wann wird Ahmed abgeschoben?

Stattdessen ist Ahmed weiterhin ausreisepflichtig. Freiwillig soll er das Land verlassen, doch das traut sich der 20-Jährige nicht. Er hat doch keine Ahnung von Rumänien, spricht die Sprache nicht. „Sogar die Rumänen kommen ja nach Deutschland“, sagt er. Zudem seien seine rumänischen Dokumente aus dem Jahr 2019 bereits abgelaufen. Ahmed fragt sich, ob das Land ihn überhaupt hineinlassen würde und was er tun sollte, falls nicht.

Also wartet er in Boostedt auf die Zwangsmaßnahme. Wann es soweit ist? Ahmed weiß es nicht. Morgen, im nächsten Monat, in wenigen Jahren – er kann es nicht sagen, niemand kann es sagen. Was er tut, wenn sie ihn nach Rumänien schicken? „Ich möchte keinen Stress machen, keine Probleme. Wenn die mich abschieben, dann … keine Ahnung, was dann“, sagt er.

Betonwüste: In Boostedt reiht sich Container an Container

Im wohnlicheren Teil von Schleswig-Holsteins größter Landesunterkunft auf dem Gelände der ehemaligen Rantzau-Kaserne reihen sich Backsteinhäuser. Auf Grünflächen befinden sich Sitzbänke und Spielgeräte, es gibt eine Schule und das Landesamt. „Schule“ oder „Landesamt“ sagt Ahmed jedoch nicht. „P12“ und „P3“ nennen die Bewohner der Landesunterkunft die Einrichtungen, denn so werden die Gebäude auf den Hinweistafeln des Geländes bezeichnet.

Zweimal abbiegen, dann wandelt sich die halbwegs idyllische Gegend in eine ghettoähnliche Asphaltwüste. Container an Container an Container – jeweils ebenso grau wie der Betonboden darunter. Irgendwo hängt ein Basketballkorb, darunter rauchen einige Bewohner. In einer Ecke schneidet jemand dem nächsten die Haare. Kaum verwunderlich, wer will von 148 Euro Taschengeld im Monat schon einen Friseurbesuch zahlen.

Hier im Containerdorf sollte er zuerst untergebracht werden, erzählt Ahmed. Dass er ein kleines Zimmer im weniger tristen Teil der Anlage abbekommen hat, verdanke er einer mitfühlenden Hausmeisterin.

Ahmeds Familie reiste studierendem Bruder hinterher

Seit nunmehr acht Monaten wohnt Ahmed in der Landesunterkunft. Er ist ausreisepflichtig, weil seine Familie zunächst in Rumänien Asyl beantragt hatte und dann erst nach Pinneberg gekommen war. Damals sei ihnen das Geld ausgegangen und sie mussten für einige Monate in dem osteuropäischen Land Station machen. Die Folge: Ahmed, seine Mutter und die mittlerweile 14-jährige Schwester Nourhan hatten von Anfang an kein Recht auf Asyl in Deutschland.

Dass Pinneberg ihr Ort der Wahl ist, um sich eine neue Zukunft zu bauen, kommt nicht von ungefähr. Ahmeds großer Bruder Al-Hussain lebte schon bevor die Familie Jemen verließ dank Studierendenstatus legal in der Region. Derzeit ist Al-Hussain in den letzten Zügen seines Elektrotechnik-Studiums und plant, bald für die Deutsche Bahn zu arbeiten.

Abschiebung: Schwester Nourhan kam plötzlich nicht mehr zur Schule

Den Aufforderungen, das Land zu verlassen, sind Ahmed, Schwester Nourhan und die gemeinsame Mutter seit 2020 nicht nachgekommen. Im Januar dieses Jahres klingelten daher Beamte an der Wohnung der Familie in Pinneberg und brachten die drei in die Landesunterkunft Boostedt. Ihr Hab und Gut, samt Katze „Prinz“ mussten sie zurücklassen. „Die ersten Stunden hat meine Schwester die ganze Zeit geweint. Ich habe einfach nur versucht, nicht auch zu weinen“, erinnert sich Ahmed an den 12. Januar.

Im Fall seiner 14-jährigen Schwester Nourhan war damals nicht einmal der Schule Bescheid gegeben worden, dass Beamte das Mädchen in die Landesunterkunft gebracht hatten. Erst nachdem die Suche der Sonderpädagogin Shila Sayfaddini Klarheit verschafft hatte, entwickelte sich ein herzzerreißender Briefwechsel zwischen Nourhan in Boostedt und ihren Pinneberger Klassenkameraden, über den das Abendblatt im März berichtete.

Großes Aufatmen: Nourhan und ihre Mutter dürfen in Pinneberg bleiben

Mit dem Juli kam das große Aufatmen: Sowohl Nourhan als auch ihre Mutter durften Boostedt verlassen und können wieder in Pinneberg wohnen. Sie werden vorerst nicht abgeschoben. Nourhan lernt jetzt am Schulzentrum-Nord weiter, wenn auch nicht mehr im früheren Klassenverband. Sie wiederholt das achte Schuljahr freiwillig.

„Wäre das alles nicht passiert, müsste sie das Schuljahr auch nicht wiederholen“, merkt Klassenlehrerin Kerstin Starke diesbezüglich an. „Ihre Versetzung war in keinster Weise gefährdet.“ Schulleiterin Stefani Quoß beklagt zudem, dass die Überführung in die Landesunterkunft die Familie offenbar weiter traumatisiert habe. „Nourhan kommt nachvollziehbarerweise nicht zur Ruhe und kann sich daher nicht voll und ganz auf ihre Schule konzentrieren“, teilt sie mit.

Ahmeds Abschiebung: „Ich bin wie ein Kaugummi für die.“

Nichtsdestotrotz ist die Familie dankbar dafür, dass dem Mädchen und der Mutter nun ein Aufenthalt in Deutschland gestattet wird. Nur Ahmed blickt in weiterhin durch die blinden Fensterscheiben Boostedts auf die Welt. „Ich bin wie ein Kaugummi für die“, sagt er über die deutschen Behörden, die von allen Seiten an ihm ziehen und auf seiner Akte herumknatschen und ihn einfach kleben lassen in der Landesunterkunft Boostedt.

Nach Deutschland sei seine Familie „für eine bessere Zukunft“ gekommen, sagt Ahmed. Sein persönliches Ziel als damals 16-Jähriger sei es gewesen, „einmal viele Freunde hier zu haben“, etwa um mit ihnen Basketball zu spielen – sein liebstes Hobby. Von beidem, einer rosigen Zukunft und einem engen Freundeskreis, kann der 20-Jährige noch immer nur träumen. Das, was wir gemeinhin unter einer Jugend verstehen, hatte er nie.

Fast sehnt er sich nach dem Leben in Jemen zurück: „Wir hatten ein großes Haus, alles war perfekt“, erzählt er. Doch insbesondere weil Ahmeds Vater einen hohen Posten bei der Marine inne hatte, bevor die Huthi-Rebellen die Regierung absetzten, entschied sich die Familie zur Flucht aus dem kriegsgeplagten Land. Noch während der Reise nach Deutschland trennten sich die Eltern.

Ahmed hatte so viel vor – jetzt soll er abgeschoben werden

Ahmed hatte so viel vor. Er hatte einen Trip in den Ruhrpott geplant, eine kleine Städtereise, um Deutschland endlich richtig kennenzulernen. Er wollte einen deutschen Freundeskreis finden, mit dem er stundenlang Basketball spielen kann und einen Job, der ihm Unabhängigkeit von sämtlichen überforderten Behörden verschafft.

„Ich wollte eigentlich immer Fluglotse werden“, erzählt er. „Man hat Kontakt mit Piloten, verdient gutes Geld, sitzt oben auf einem Turm und sieht jeden Tag die Schönheit der Welt.“