Ex-Bewohner berichten über Missbrauch und Gewalt. Klaus-Ulrich Sembill verteidigt ehemaligen Chef.

Pinneberg. Klaus-Ulrich Sembill war ab 1979 Abteilungsleiter im Jugendhilfezentrum der Arbeiterwohlfahrt an der Aschhooptwiete und arbeitete mit Heimleiter Horst Hager im Führungsteam des damals als Modelleinrichtung gelobten Kinder- und Jugendheims. Heute ist Sembill Regionalleiter der Awo Unterelbe. Im Interview mit der Pinneberger Zeitung nimmt er Stellung zu den Vorwürfen von ehemaligen Heimkindern aus dem von ihnen so getauften "Haus der toten Seelen" am Haidkamp und der Nachfolgeeinrichtung an der Aschhooptwiete.

Pinneberger Zeitung: Wie geht die Awo mit den Berichten ehemaliger Heimkinder aus den Pinneberger Kinderheimen im Internet und in der Pinneberger Zeitung um?

Klaus-Ulrich Sembill: Wir haben eine Arbeitsgruppe gegründet, die sich mit der Aufarbeitung der Awo-Heimerziehung in der Vergangenheit beschäftigt. Daneben tausche ich mich derzeit täglich mit dem Bundesverband in Berlin und Landesverband der Awo in Kiel über Möglichkeiten der Aufarbeitung aus. Nächste Woche tagt die Geschäftsführerkonferenz in Berlin. Das wird ein Tagesordnungspunkt sein.

PZ: Haben Sie mit Horst Hager über die Vorwürfe gesprochen?

Sembill: Ja. Er hat von sich ein anderes Bild, als es jetzt von ehemaligen Heimkindern gezeichnet wird und widerspricht den Darstellungen.

PZ: Wie empfinden Sie die Berichte der ehemaligen Heimkinder?

Sembill: Ich finde es schmerzlich und schockierend. Wenn Menschen das so erlebt haben, ist das sehr bedauerlich. Auch, weil es dem Selbstanspruch der Awo und dem konzeptionellen Anspruch nicht gerecht wurde. Ich persönlich habe Herrn Hager so nie erlebt. Wir schätzen Horst Hager für sein Lebenswerk im pädagogischen Bereich.

PZ: Was macht das Lebenswerk aus?

Sembill: Es besteht darin, dass er vom alten Heim am Haidkamp hin zur Aschhooptwiete ständig bemüht war, die Dinge weiter zu entwickeln. Er hat Tagesgruppen für Kinder im Alter von acht bis zu zwölf Jahren entwickelt. Er hat die Erziehungsberatungsstelle ins Heim integriert, um so früh wie möglich an Kinder und Eltern heranzukommen und ihnen zu helfen. Hager hat am Haidkamp wie in der Aschhooptwiete mit Psychologen zusammengearbeitet. Es hat regelmäßig Besprechungen über die Entwicklung der Jugendlichen gegeben.

PZ: Ehemalige Bewohner der Aschhooptwiete erzählen von teils extremen Gewalttaten der Jugendlichen untereinander und dass es, keine Chance gab, Übergriffen aus dem Weg zu gehen oder darüber zu reden.

Sembill: Massenhaft hat es das nicht gegeben. Im Einzelfall sind Gewaltübergriffe bekannt geworden. Dann ist das auch Thema der Gruppenbesprechungen gewesen. Es wurden Gruppentagebücher geführt, in denen die Vorkommnisse des Tages festgehalten wurden. Diese Tagebücher waren Gegenstand der Teamgespräche. Die Teams sind von Psychologen begleitet worden. Gleichwohl gibt es in der Heimerziehung Gruppendynamiken, die nicht das Licht der Öffentlichkeit suchen. Das ist ein der Grund, warum wir uns um Regionalisierung und Dezentralisierung bemüht haben.

PZ: Ehemalige Bewohner der Aschhooptwiete sagen, dass ihnen zu den familiären Belastungen, die sie mitbrachten, im Heim zusätzliche seelische und körperliche Verletzungen zugefügt wurden.

Sembill: Ich will das nicht bestreiten. Trotzdem glaube ich, dass Kinder und Jugendliche bei uns gut beheimatet waren, Unterstützungen erfahren haben, neue Wege aufgezeigt bekommen haben.

PZ: Ist Ihnen der Fall des Mädchens, das nach eigenen Aussagen von Horst Hager 1984 geschlagen und getreten wurde, bekannt?

Sembill: Nein. Wäre dieser Fall seinerzeit angesprochen worden, hätte das zu arbeitsrechtlichen Konsequenzen geführt. Auch der Politiker Horst Hager war als Mitarbeiter der Arbeiterwohlfahrt nicht vogelfrei.

PZ: Es entsteht aus externer Sicht der Eindruck, dass Missstände vom sexuellen Missbrauch in den 60er-Jahren bis hin zu den Gewalttätigkeiten unter den Jugendlichen in den 80er-Jahren hausintern gelöst wurden, um Ruf und Ansehen von Hager und der Awo nicht zu schaden.

Sembill: Das wird der Realität nicht gerecht. Über die 50er- bis 70er-Jahre kann ich nichts sagen. Die Vorfälle in den 80ern hätte ich in irgendeiner Form mitbekommen müssen. Solche extremen Übergriffe sind nicht bekannt geworden. Das hätte nicht verborgen werden können. Die Kinder hätten sich ja auch Lehrern in der Schule anvertrauen können.

PZ: Wie stellen Sie sicher, dass es heute nicht zu Vorfällen kommt, wie sie von ehemaligen Heimkindern geschildert werden?

Sembill: Wir haben ein Qualitätsmanagement eingeführt. Darin werden zum Beispiel Aufnahme des Kindes, Aktenführung, Elterngespräche, Entlassung des Kindes standardisiert erarbeitet und fortlaufend überarbeitet. Wir versuchen heute, für die Kinder und Jugendlichen ihren Aufenthalt in den wesentlichen Punkten so transparent wie möglich zu machen. Die Kinder und Jugendliche haben heute im Rahmen eines Beschwerdemanagements die Möglichkeit, sich anonym zu beschweren.