Unterdrückung: Nichts durfte nach außen dringen. Bewohner erzählen, was Jahre nach dem Umzug in den Neubau der Awo passierte.

Pinneberg. Nach den Veröffentlichungen der Erinnerungen ehemaliger Heimkinder aus dem von ihnen so getauften "Haus der toten Seelen" am Haidkamp haben sich Menschen gemeldet, die in ihrer Jugend in der Awo-Nachfolgeeinrichtung an der Aschhooptwiete gelebt haben. Anders als die Kinder vom Haidkamp, die sexuellen Missbrauch und Prügel beklagten, werfen jene heute über 40 Jahre alten Männer und Frauen den Pädagogen überwiegend "Vernachlässigung ihrer Fürsorgepflicht" vor.

Im Awo-Heim an der Aschhooptwiete, in denen bis zu 110 Kinder- und Jugendliche lebten, soll es in den 80er-Jahren zudem zu extremen Gewalttätigkeiten der Jugendlichen untereinander gekommen sein. "Nichts, was im Heim passierte, durfte nach außen dringen. Diesen Eindruck hatten wir. Wir galten ja als Vorzeigeinstitut", sagt Sönke B.

Der heute 42-jährige Sönke B. kam mit 13 Jahren ins Heim an der Aschhooptwiete. "Ich galt als schwierig. Das traf auf jeden Fall zu. Die Heimjahre haben mich allerdings zu einem noch schwierigeren Menschen gemacht." Besonders schlimm für Sönke B.: Sein bester Freund nahm sich nach der Heimzeit das Leben. Ungewöhnlich viele ehemalige Heimfreunde seien schon tot. "Ich trauere noch heute. Sie waren ja so etwas wie Geschwister für mich."

Sönke B. hat sich in Therapie begeben, unter anderem, weil er sich häufig wie "eine entsicherte Handgranate" fühle. "Besonders, wenn mich Behörden nach Aktenlage beurteilen, kriege ich Probleme." In der Therapie habe er gelernt: "Ich war im Heim auf der Suche nach Liebe, die mir niemand geben konnte. Deshalb bin ich wohl auch oft aus dem Heim abgehauen." Einmal habe er sich in eine Erzieherin verknallt. "Als das raus kam, habe ich versucht, mich umzubringen. Das hat Gott sei Dank nicht geklappt. Geholfen hat mir danach niemand, ich wurde mir selbst überlassen."

Sven K.(42) kam im Januar 1983 ins Heim an der Aschhooptwiete. Aufgrund eines erblich bedingten Augenleidens war Sven K. stark sehbehindert und belegte in der von den Jugendlichen festgelegten Hackordnung den untersten Rang. "Gewalt war für mich ein Teil des Heimalltags. Sie nannten mich 'Blindi'. Ich kriegte von den anderen ständig eins aufs Gesicht." Einmal hätten ihn ein paar Jungs mit dem Gesicht unter Wasser gedrückt und ihm mit einem Trichter Urin eingeflößt. "Hätte ich das gepetzt, hätten die noch ganz andere Sachen mit mir gemacht."

Durch einen Zwischenfall Ende Januar 1986 verlor Sven K. ein Auge. "Es ging um drei Zigaretten. Ein Mädchen verlangte sie von mir zurück und schlug mir aus Wut ein belegtes Brot aus der Hand. Ich habe sie daraufhin aus dem Raum bugsiert. Sie ballte ihre Faust und schlug mir mit einem zum Dorn geknickten Mittelfinger ins linke Auge."

Sven K. musste zum Augenarzt, kam dann in die Uniklinik Kiel, wo Fachärzte versuchten, durch Operationen sein Auge zu retten. Es musste schließlich im UKE in Hamburg entfernt und durch ein Glasauge ersetzt werden. "Ich wurde dann gefragt, ob ich wieder zurück ins Heim will. Natürlich wollte ich nicht, ich war froh, dem Martyrium entkommen zu sein."

Ob Heimleiter Hager je von dem schrecklichen Ereignis erfuhr, weiß Sven K. nicht. "Er war selten da, trat allenfalls in Erscheinung, wenn die Polizei bei uns auftauchte. Damit brachten wir ja sein Heim in Verruf."

Die von Jähzorn geprägten Ausfälle des Heimleiters gegenüber seinen Schützlingen, wie es die ehemaligen Haidkamp-Kinder schildern, schienen in den 80er-Jahren vorbei. Umso erschütternder ist die Erinnerung von Beate K. (43): "Ich war dreieinhalb Jahre im Heim an der Aschhooptwiete. Ich fühlte mich dort gut aufgehoben, bis zu jener Nacht im Frühling 1984. Der Heimleiter weckte mich, riss mir die Decke weg und zerrte mich aus dem Bett, schubste mich über die Treppe raus auf den Rasen. Ich hätte geplant, mit anderen Kindern abzuhauen, warf er mir vor. Ich erwiderte, dass das nicht stimme. Daraufhin hob der Heimleiter die Hand, schlug mir mehrere Male ins Gesicht. Ich fiel hin, und er trat mir in den Bauch, sodass mir die Luft weg blieb."

Ende Juni 1984 verließ Beate K. das Heim, um in Neustadt an der Weinstraße eine Maler- und Lackiererausbildung zu machen.