Gefordert wird die Entwicklung vernünftiger Kriterien für die Qualitätskontrolle in Seniorenhäusern

Vögelsen. Bis Ende 2010 soll jedes Pflegeheim in Deutschland vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) getestet werden. Bereits vor einem Jahr suchten Prüfer des MDK das Seniorenhaus Vögelsen auf. "Mit der Note 2,3 haben wir für unsere Verhältnisse schlecht abgeschlossen", sagt Einrichtungsleiterin Petra Reinhardt. Statt sich ein ausgiebiges Bild von den Einwohnern zu machen, legten die Prüfer den Schwerpunkt auf die Kontrolle der Pflegedokumentation, so die Kritik der examinierten Altenpflegerin

Es waren die Pflegeskandale, die vor einigen Jahren bundesweit für Schlagzeilen sorgten. Vorwürfe wurden laut, in Pflegeheimen bekämen die Bewohner nicht genügend zu trinken, viele hätten vom Liegen Druckgeschwüre und würden nicht fachgerecht versorgt. Noch unter der ehemaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) wurden Pflegenoten eingeführt. Noten von Eins bis Fünf, von Sehr gut bis Mangelhaft - angelehnt an das System der Schulnoten.

Insgesamt 82 Einzelpunkte werden bei den Prüfungen von den Mitarbeitern des MDK abgearbeitet. Punkte in der Bewertung kostete das Heim in Vögelsen beispielsweise eine nicht frühzeitig vollzogene Dokumentation des sogenannten Dekubitus (Druckgeschwür)-Risikos einer neuen Heimbewohnerin. Egal, ob ein Heimbewohner wund gelegen ist oder nicht, die Dokumentation des Zustandes gilt für jeden. Hingegen wurde die von den Prüfern vorgenommene Bewohnerbefragung wie auch der Bereich der Hauswirtschaftlichen Pflege mit Eins bewertet.

Punktabzüge gibt es zum Beispiel, sollte der Speiseplan nicht exakt in der geforderten Höhe hängen, die Schriftgröße des Plans die vorgegebene Größe unterschreiten oder auch die tägliche Dokumentation der Kühlschranktemperatur unvollständig sein.

Als im Dezember 2009 die ersten Pflegenoten im Internet veröffentlich wurden, gab es viele gute und sehr gute Noten. Mecklenburg-Vorpommern und Baden-Württemberg liegen demnach mit einer Gesamtnote von 1,2 vorn. Der Bundesdurchschnitt liegt derzeit bei 1,9, der Schnitt der der Ambulanten Pflegedienste bei 2,1.

Zählungen des Statistischen Bundesamtes für 2007 unterteilen die rund 22 000 Pflegeeinrichtungen in Deutschland hälftig in Pflegeheime und Ambulante Pflegedienste. Das hat bei Betroffenen früh für Kritik am Bewertungssystem gesorgt. Viele Heime haben geklagt. Mit dem Ergebnis, dass das Sozialgericht Münster im August die Benotung der Pflegeheime durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen als irreführend und rechtswidrig bezeichnet hat. Kritisiert wurde vor allem, dass weniger die Pflegequalität als vielmehr die Qualität der Dokumentation geprüft wurde.

Nichts anderes sagt Fachfrau Reinhardt: "Die Prüfer sollten sich ein Bild davon machen, wie es den Menschen geht. Die Noten, die vergeben werden, haben nichts mit der Lebensqualität der Bewohner sowie der Ergebnisqualität unserer Arbeit zu tun."

Im Prinzip müsse jeder Handschlag dokumentiert werden, entweder täglich, wöchentlich oder monatlich, weiß die stellvertretende Pflegedienstleiterin Nina Swiatecki. Petra Reinhard wird konkret:"Das kostet uns 50 Prozent der Zeit, die ursprünglich für die Pflege zur Verfügung stand. Eine Stunde Pflegezeit beinhaltet jetzt eine halbe Stunde Dokumentation." Die 46-Jährige berichtet von Kollegen aus New York, denen Schreibkräfte die zeitraubende Dokumentation abnehmen.

Denn was nicht dokumentiert ist, gilt als nicht gemacht. Darunter fallen mindestens 25 Bereiche wie beispielsweise Pflegeplanung mit Pflegediagnosen, Sturzrisikoskala, Erfassungsbogen zum Ernährungszustand, Lagerungs- bzw. Bewegungsplan, Vitalwertebogen, Injektionsprotokoll, Medikamentenliste, Wundprotokoll oder die Ermittlung eines Kontinenzprofils. "Vor dem Hintergrund, dass 90 Prozent unserer Heimbewohner an Demenz beziehungsweise Alzheimer leiden, ist manche Dokumentationspflicht überflüssig", sagt Heimleiterin Reinhardt.

Bisher hat die Mehrbelastung zu keiner Veränderung des Pflegeschlüssels in den Heimen geführt. Stattdessen bringen viele Mitarbeiter seit der Einführung der Dokumentation mehr Zeit für die Heimbewohner auf, die letztlich nicht bezahlt wird. Da ist es kaum verwunderlich, wenn Petra Reinhardt feststellt: "Es ist so gut wie unmöglich, Pflegekräfte zu bekommen. Im Großraum Lüneburg fehlen 150."

Allein in diesem Jahr sind 500 Pflegeplätze in der Stadt und dem Landkreis dazugekommen durch den Bau neuer Einrichtungen wie das Seniorenzentrum Stadtgärtnerei, das Senioren Domizil am Bockelsberg oder das Seniorenheim Lopaupark in Amelinghausen. In einigen Einrichtungen seien aufgrund des Pflegenotstands bereits Stationen geschlossen beziehungsweise ein Aufnahmestopp verhängt worden, so Reinhard.

Der Beruf des Altenpflegers leidet unter einem negativen Ruf. Viel Arbeit für mäßige Bezahlung, große körperliche wie psychische Belastung und ein hoher Krankenstand nagen am Image. "Vor allem der Druck muss raus", sagt Petra Reinhardt. Sie fordert die Entwicklung vernünftiger Kriterien, die die tatsächliche Qualität der geleisteten Pflege wiedergeben.

Im Seniorenhaus Vögelsen leben derzeit 38 alte Menschen. Betreut werden sie von insgesamt 35 Pflegern, eingeschlossen drei Auszubildende. Die Benotung hat dem Haus bisher nicht geschadet, denn die Empfehlung der zufriedenen Angehörigen von Heimbewohnern ist wirksamer als die Benotung durch den Medizinischen Dienst.

In den nächsten Jahren ist im Zuge der zunehmenden Alterung der Gesellschaft auch mit immer mehr Pflegebedürftigen zu rechnen. Nach den Ergebnissen dieser Vorausberechnung dürfte die Zahl von 2,13 Millionen Pflegebedürftigen im Jahr 2005 auf 2,40 Millionen im Jahr 2010 steigen. Im Jahr 2020 sind 2,91 Millionen Pflegebedürftige und im Jahr 2030 etwa 3,36 Millionen Pflegebedürftige zu erwarten. Quelle: Statistisches Bundesamt