Erst vor drei Jahren waren große Teile der Südstaaten-Metropole von “Katrina“ zerstört worden. Jetzt droht die “Mutter aller Stürme“. Bürgermeister Nagin evakuiert seine Stadt.

New York/New Orleans. Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht - aus Angst vor einem Monster, dessen Vernichtungskraft jede Dimension sprengen könnte. Hurrikan "Gustav", der sich gestern dem Golf von Mexiko näherte und Kurs auf die Südküste der USA nahm, sei die "Mutter aller Stürme", der "Sturm des Jahrhunderts", warnte der Bürgermeister von New Orleans, C. Ray Nagin. "Ich bin sicher: Etwas Derartiges haben wir noch nie gesehen."

Ölkonzerne holten 35 000 Arbeiter und Experten mit Hubschraubern von den Bohrinseln im Golf von Mexiko. Aus den Krankenhäusern entlang der Golfküste wurden 500 Patienten ebenfalls per Hubschrauber in Kliniken in Texas gebracht. Zum ersten Mal seit den verheerenden Schäden durch den Hurrikan "Katrina" im Jahr 2005 wurde für die Jazz-Metropole im Bundesstaat Louisiana die komplette Zwangsevakuierung angeordnet. "Gustav" sei größer und gefährlicher als "Katrina", sagte Nagin, obwohl "Gustav" am Sonntag zunächst etwas an Brisanz verlor - möglicherweise aber nur vorübergehend.

"Katrina" hatte Ende August 2005 eine Schneise des Todes durch New Orleans geschlagen, 1836 Menschen starben durch die Wucht des Sturms oder in den Fluten, als der Hurrikan zwei Kanäle in New Orleans zerriss und der riesige Lake Pontchartrain 80 Prozent des Stadtgebietes bis zu 7,60 Meter hoch überflutete. Dabei hatte "Katrina" die 1718 von Franzosen gegründete Stadt nur mit seinen Ausläufern erwischt. Hatte New Orleans vor der Katastrophe noch 455 000 Einwohner gehabt, so waren es ein Jahr später nur noch 223 000. Inzwischen leben im Stadtgebiet wieder 275 000 Menschen, doch in der Metropolregion sind es mehr als eine Million. Von der Evakuierung sollen 470 000 Menschen betroffen sein.

"Katrina", der zerstörerischste Sturm, der je die USA heimsuchte, war zeitweilig in die Sturm-Kategorie 5 der Saffir-Simpson-Skala eingestuft worden. Sie bezeichnet wahre Monstrositäten der Meteorologie, die Windgeschwindigkeiten von mehr als 250 Kilometern je Stunde erzeugen. Nur bunkerartig gebaute Gebäude überstehen einen derartigen Angriff völlig schadlos, die in den USA weit verbreiteten Holzhäuser werden von einem derartigen Sturm kurzerhand zerrissen und weggeweht. Die mit dieser Geschwindigkeit umherfliegenden Trümmer gleichen einem Hagel von Granatsplittern, die Lautstärke eines solchen Sturms ist von einer ohrenbetäubenden Gewalt, als hätten sich die Pforten der Hölle geöffnet und alle Dämonen entlassen.

"Gustav", der bis Sonntag bereits 85 Todesopfer in der Karibik forderte und auf Kuba als "zerstörerischster Sturm der vergangenen 50 Jahre" bezeichnet wurde, musste innerhalb von zwölf Stunden in die Kategorie 4 mit Windgeschwindigkeiten zwischen 210 und 249 Kilometern je Stunde heraufgestuft werden, verlor dann wieder etwas an Geschwindigkeit und erreichte die Kategorie drei.

Die Heraufstufung in die höchste Kategorie 5 ist allerdings von Wissenschaftlern bereits vorhergesagt worden. Einzelne Böen von "Gustav" hatten zwischenzeitlich 270 Kilometer je Stunde erreicht. Nach den Erfahrungen mit "Katrina" hatten Wissenschaftler angeregt, eine 6. Kategorie für Windgeschwindigkeiten bis fast 300 km/h zu schaffen.

Wie die "New York Times" gestern in ihrer Online-Ausgabe berichtete, fliehen die meisten Menschen mit dem Auto vor "Gustav" - vor allem auf der nach Norden führenden Autobahn Interstate 55 kam es zu Staus. Anders als 2005 läuft die Evakuierung insgesamt aber reibungslos. Die amerikanische Eisenbahngesellschaft Amtrak beförderte Tausende Passagiere nach Memphis in Tennessee. Ferner fuhren Busse mit weiteren Tausenden nach Alexandria, Shreveport und anderen Städten im Norden Louisianas. Viele warteten am Sonntag an den 17 Sammelpunkten im ganzen Stadtgebiet von New Orleans. Von dort aus werden sie mit Bussen zunächst zum Union Passenger Terminal gefahren, dem Bahnhof in der Stadtmitte. Dann geht die Reise weiter, per Bus oder Bahn.

Fast alle klammern Koffer, Reisetaschen oder andere Behältnisse mit ihrer wertvollsten Habe fest. Zwar sind rund 7000 Mitglieder der Nationalgarde mobilisiert worden, um Plünderungen der leeren Heime zu verhindern, davon 2000 in der eigentlichen Stadt , aber die chaotische Situation des Jahres 2005, in der die Regierung von George W. Bush vollkommen versagte, ist unvergessen. Bei der jetzt angeordneten Evakuierung zerren die Behörden zwar niemanden mit Gewalt aus dem Haus, sie verhängten gestern aber bereits nächtliche Ausgangssperren. "Dies ist die Wirklichkeit, das ist keine Übung", sagte Nagin und warnte noch einmal: "Für jeden, der glaubt, diesen Sturm einfach abwettern zu können, habe ich Neuigkeiten: Es wäre einer der größten Fehler, den Sie in ihrem Leben machen können."

Die durch den Hurrikan verursachte Flutwelle, fügte Nagin hinzu, könne glatt doppelt so hoch ausfallen wie die gut drei Meter hohen Deiche. Und noch immer ist New Orleans trotz der Investition von 3,3 Milliarden Dollar an Steuergeldern in ein Neubauprogramm keineswegs wieder völlig aufgebaut, Wer sich dennoch dafür entscheide, in seinem Haus zu bleiben, solle wenigstens eine Axt bereithalten - um sich durch das Dach nach oben zu hacken, wenn das Wasser unaufhaltsam steige, sagte der Bürgermeister.

"Ich will nicht noch einmal so feststecken wie bei 'Katrina'", sagt Janice McElveen, die im Irish-Channel-Viertel auf einen Bus wartet. Damals war sie auf einer Straßenbrücke der Interstate 10 fünf Tage lang Gefangener des Hurrikans.

Roxanne Clayton harrte damals zwei Tage lang auf dem Dachboden ihres überfluteten Hauses aus, bevor sie gerettet wurde. "Das will ich nicht noch einmal durchmachen" sagt sie und wartet mit ihrer zehnjährigen Tochter und ihren Sohn im Teenageralter auf den Bus.

In der Innenstadt, entlang der Drades-Straße, stehen vor allem ältere und gehbehinderte Menschen Hunderte Meter lang Schlange an der Bushaltestelle, viele sitzen in Rollstühlen oder stützen sich auf Stöcke. "Wenn man 'Katrina' überlebt hat, ist das kein Spaß", sagt die arbeitslose Kassiererin Jody Anderson. Sie harrte 2005 sieben Tage lang mit bis zu 60 000 anderen Menschen im Sportstadion Super Dome aus. Die von den Fluten eingeschlossene Arena musste schließlich ebenfalls evakuiert werden.

Sogar die große Bundespolitik wurde am Sonntag bereits vom nahenden Sturm berührt. Die republikanischen Gouverneure Bobby Jindal aus Louisiana und Rick Perry aus Texas verkündeten, dass sie nicht am Parteitag der Republikaner in St. Paul teilnehmen, sondern in ihren Heimatstaaten bleiben würden. John McCain, der Präsidentschaftskandidat der Partei, erklärte gestern Abend, der Parteitag werde am Montag nicht wie geplant stattfinden. Die Delgierten sollten sich zwar formell konstituieren, aber alle weiteren Veranstaltungen würden auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. "Es wäre nicht angemessen, eine festliche Versammlung zu veranstalten, während eine nahe gelegene Tragödie sich als nationales Desaster herausstellt", sagte er. In Washington entschieden US-Präsident George W. Bush und sein Vize Dick Cheney, ihre Auftritte vor dem Parteitag in St. Paul abzusagen. Nicht nur eine Stadt - ein ganzes Land hat Angst vor dem Monster namens "Gustav".