Tschernobyl: 20 Jahre nach der Reaktor-Katastrophe, die unser Leben veränderte. In einigen Pilzen und im Wildschweinfleisch aus Südbayern lassen sich heute noch erhöhte Strahlenwerte nachweisen. Auch der Schrecken wirkt immer noch nach.

Frische Milch, Gemüse vom Acker, Salat aus dem eigenen Garten - für Wochen wurde das alles vom Speisezettel verbannt. Eltern ließen ihre Kinder nicht mehr auf dem Rasen spielen, Sandkisten wurden gesperrt, bis der Sand erneuert war, die Schwimmstunde im Freibad gestrichen. In Norddeutschland gründete sich spontan der Verein "Eltern für unbelastete Nahrung (EfuN)", der im eigenen Labor Lebensmittel auf Radioaktivität überprüfte und in Rundbriefen darüber informierte. Die Bürger- und Infotelefone standen nicht mehr still. Die bisher nur abstrakte Gefahr der Atomkraft war mit der Katastrophe von Tschernobyl über Nacht konkret geworden. Was ist von dieser Gefahr geblieben - 20 Jahre nach Tschernobyl?

Viele Menschen verspürten damals Angst vor der unsichtbaren Gefahr, die Winde über eine Distanz von rund 1300 Kilometer nach Deutschland trugen und damit das unsichtbare Gift. Bei den Explosionen und der Kernschmelze in Block vier des Atomreaktors Tschernobyl am 26. April um 1.24 Uhr wurde der mehr als 3000 Tonnen schwere Deckel des Reaktorkerns 14 Meter in die Luft geschleudert, das Dach des Reaktorgebäudes zerstört. Der freiliegende Reaktorkern schickte die 200fache Radioaktivität der Hiroshima-Bombe in die Atmosphäre. Die radioaktiven Wolken, die sich über der Unglücksstelle bildeten, verbreiteten vor allem leichtflüchtige Radionuklide - wie Jod-131, Cäsium-134 und Cäsium-137 - fast zehn Tage lang über die gesamte Nordhalbkugel. Es traf insbesondere Weißrußland, die Ukraine und Rußland - zu spüren waren die Folgen jedoch überall.

Schlaglichter: In Italien wurde ein striktes Verkaufsverbot für Blattsalate und Gemüse erlassen, Kindern unter zehn Jahren und Schwangere sollten keine Frischmilch mehr trinken. Österreich, Schweden und Dänemark verboten die Einfuhr von Obst und Gemüse aus der UdSSR, Ungarn, der Tschechoslowakei, Bulgarien, Rumänien und Polen.

Auch in Deutschland wurden - zunächst je nach Bundesland unterschiedliche - Vorsichtsmaßnahmen ergriffen. In Süddeutschland wurden große Mengen an Frischgemüse und Salat vernichtet. Auf Anweisung der Bundes kontrollierte beispielsweise die Kieler Landesregierung alle in der Ostsee gefangenen Fische. Auch die Ostsee-Schiffe wurden überprüft. Einige mußten gereinigt werden, weil sie radioaktiv belastet waren. Dabei war die Gesamtbelastung in Norddeutschland um den Faktor zehn geringer als im Süden. Vor allem der Bayerische Wald und das Gebiet südlich der Donau wurden stark belastet.

Wissenschaftler rieten den Bayern, das radioaktiv kontaminierte Weidegras abzumähen und zu vernichten. Sie taten es nicht - Cäsium-137 und Jod-131 reicherten sich in Fleisch und Milch an. In vielen Gebieten wurde die Milch eingesammelt und zu Käse verarbeitet. Die Radionuklide blieben in der Molke, die zu Pulver wurde. Messungen ergaben, daß das Pulver knapp fünfmal stärker strahlte als es durfte. 7000 Tonnen Molkepulver wurden radioaktiver Abfall und reisten in 242 Bundesbahnwaggons jahrelang durch Deutschland - begleitet von Demonstrationen, bewacht von der Bundeswehr. 1990 wurde in Lingen die restliche Molke in einer extra dafür errichteten Anlage entsorgt.

20 Jahre nach Tschernobyl sind Waldprodukte - Wild und Pilze - die einzigen Nahrungsmittel, in denen das Cäsium-137 noch erhöht ist. Belastet ist vor allem das Fleisch von Wildschweinen aus Südbayern und dem Bayerischen Wald, so das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS). "Dies hängt damit zusammen, daß sich Wildschweine von einer Pilzart ernähren, die besonders hoch belastet ist, dem sogenannten Hirschtrüffel", erläutert Michael Sailer vom Öko-Institut. Auch bei wildwachsenden Pilzen wie Maronenröhrlingen, Semmelstoppelpilzen, Steinpilzen oder Pfifferlingen aus diesen Regionen werden noch erhöhte Werte gefunden.

Wer 200 Gramm dieser Wildpilze esse, so das BfS, setze sich einer zusätzlichen Strahlenbelastung von 0,01 Millisievert aus. Das entspricht weniger als einem Hundertstel der jährlichen natürlichen Strahlenexposition in Deutschland, kommt aber zu dieser hinzu. "Wer für sich persönlich die Strahlenbelastung so minimal wie möglich halten möchte, sollte auf den Verzehr von vergleichsweise hochkontaminierten Pilzen und Wildbret, insbesondere Wildschweinen, verzichten", rät das BfS. Landwirtschaftliche Erzeugnisse könnten hingegen bedenkenlos verzehrt werden.

Also doch nur viel Lärm um wenig? Sicherlich ist der Molkezug ein besonders krasses Beispiel für die ungeordnete Reaktion, die nicht nur in Deutschland in den Monaten und Jahren nach Tschernobyl zu beobachten war. Es zeigt aber eindringlich, wie wenig Vertrauen die Menschen in Politik und Wissenschaft nach Tschernobyl hatten. Die Vorsorgemaßnahmen, so urteilen Strahlenbiologen rückblickend, waren in jedem Fall gerechtfertigt. "Heute", resümiert Michael Sailer, "gibt es bessere Informationsstrukturen, beispielsweise Internetplattformen, um die Menschen frühzeitig zu warnen und damit besser zu schützen." Einen Unfall wie Tschernobyl verhindert das aber nicht.