"Am 28. April 1986 erhielt ich vormittags von Dr. Wolfgang Kiesewetter, dem Leiter des radiochemischen Labors des Deutschen Wetterdienstes, einen Anruf, der meinen weiteren Arbeitstag schlagartig veränderte", erinnert sich Wolfgang Kusch, Präsident des Deutschen Wetterdienstes (DWD). Damals arbeitete der Diplom-Meteorologe im Bereich Wetteranalyse und -prognose in Offenbach. Die Wetterprognosen dieses Tages veränderten die Welt.

Kollegen aus Finnland und Schweden hatten Kiesewetter informiert, daß sie massiv Radionuklide in der Atmosphäre gemessen hatten, die auf einen Reaktorunfall, einen Gau ( g rößter a nzunehmender U nfall), hindeuteten. Ihr Verdacht: Die strahlende Fracht kam aus Tschernobyl. Kusch erhielt den Auftrag, die Quelle für die radioaktive Wolke über Skandinavien zu finden.

"Ich habe die Karten, die die Luftströmungen darstellen, genommen und begonnen zu rechnen", erzählt Kusch. Dabei konnte er sich nicht auf moderne Computermodelle stützen, sondern mußte vieles "per Hand" errechnen. Allerdings gab es damals schon ein Modell, mit dem die Flugbahn von kleinen Luftpartikeln vom Ursprung bis zu einem Endpunkt - oder andersherum - berechnet werden konnte. "Diese Bahnen oder Trajektorie errechnete ich zunächst für eine Höhe von 1500 Metern. Es zeigte sich, daß es eine Luftströmung von Tschernobyl nach Skandinavien gab", so Kusch. "Das war der erste sichere Hinweis, daß in Tschernobyl Dramatisches passiert sein mußte."

Sofort rechnete der Meteorologe die Bahnen der Luftpartikel auch für 3000 und 5000 Meter Höhe aus. Denn wenn es einen Gau gegeben hatte, dann konnten die radioaktiv strahlenden Teilchen auch bis in diese Höhen gestiegen sein.

Nach zwei Stunden Arbeit stand fest: Der radioaktive Fallout würde auch Westeuropa erreichen. "Wir haben sofort das Innenministerium und dann die Medien informiert. Abends saß ich in der Hessenschau von HR 3 und erläuterte meinen Befund", erinnert sich Kusch, der als erster deutscher Meteorologe vor dem radioaktiven Fallout warnte - noch bevor die sowjetische Nachrichtenagentur "Tass" mit acht Zeilen eine "Havarie" in Tschernobyl meldete.

Der Großteil der radioaktiven Stoffe wurde in den ersten zehn Tagen freigesetzt. Es entwichen Edelgase wie Xenon-135, leichtflüchtige Nuklide wie Jod-131, Tellur-132, Cäsium-134 und Cäsium-137. Es sei ein großes Glück gewesen, daß Westeuropa nicht mehr von dieser tödlichen Fracht abbekommen habe. "Es war relativ windstill in den Tagen", sagt Kusch und ergänzt, dieser 28. April sei der aufregendste Tag seines Berufslebens gewesen.