Wahrscheinlich ist es das Higgs-Teilchen: Physiker sind auf ein neues Partikel gestoßen, das erklären könnte, warum alle Dinge eine Masse haben

Genf. Beifall brandete auf, als Peter Higgs gestern Morgen im großen Hörsaal des europäischen Kernforschungszentrums CERN Platz nahm. Der 83 Jahre alte Physikprofessor von der Universität Edinburgh hatte im Oktober 1964 die Theorie veröffentlicht, dass uns ein unsichtbares Feld umgebe, das allen Dingen ihre Masse verleihe. Auf dieses Feld, schrieb der Schotte, könnte ein bestimmtes Teilchen hindeuten. Higgs Formeln füllen nur eineinhalb Seiten - und doch sind sie nicht weniger als die mathematische Herleitung, warum wir existieren. Fast zeitgleich mit ihm entwickelten fünf weitere Physiker annähernd die gleiche Theorie, die bald große Akzeptanz fand, bildete sie doch den lange gesuchten zentralen Baustein im Standardmodell der Teilchenphysik, das unsere Welt beschreibt. So bestechend das Konzept der sechs Gelehrten war, es blieb fast 48 Jahre lang unbestätigt. Bis gestern.

"Ich denke, wir haben es" - mit diesen Worten kommentierte CERN-Direktor Prof. Rolf-Dieter Heuer die Ergebnisse einer fast zweistündigen Präsentation, in deren Verlauf die Sprecher der beiden großen CERN-Experimente ATLAS und CMS die Entdeckung eines bisher unbekannten Partikels bekannt gaben. Dabei handelt es sich sehr wahrscheinlich um das lang gesuchte Higgs-Teilchen, denn dessen Eigenschaften stimmten nach den vorläufigen Erkenntnissen mit den Vorhersagen des Standardmodells überein, sagte Heuer. Damit löste er auch im australischen Melbourne Jubel aus, wo sich die internationale Physikerelite auf einer Konferenz traf, und in Hamburg am Desy, wo an den Experimenten beteiligte Forscher eine Magnumflasche Champagner öffneten. Alle drei Orte waren per Videoübertragung verbunden.

Das statistische Maß für die Abweichung von einer Norm bezeichnen Physiker als Standardabweichung, die sie in Sigma angeben. Noch im Dezember 2011 hatte sich im ATLAS-Experiment eine Abweichung von 3,5 Sigma gezeigt, im CMS-Experiment lag sie bei 2,5 Sigma. Kombiniert lag die Wahrscheinlichkeit, dass der ungewöhnliche Ausschlag nur ein Zufall ist oder bereits bekannte Teilchen anzeigt, bei etwa eins zu 1000. Doch erst ab fünf Sigma, also einer Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million, handelt es sich um eine Entdeckung. Eben diesen Wert hat ATLAS jetzt erreicht, CMS kam auf 4,9.

+++ Was die Welt zusammenhält +++

"Was sich hier anbahnt, ist für mich bisher die Entdeckung des Jahrhunderts", sagte Prof. Joachim Mnich, Forschungsdirektor des Desy. "Am deutlichsten überzeugt mich, dass wir in den zwei unabhängigen Datensätzen aus 2011 und aus diesem Jahr das gleiche Signal sehen." Doch die Physiker bleiben vorsichtig: "Jetzt müssen wir herausfinden, ob es sich bei dem neuen Teilchen tatsächlich um den fehlenden Baustein des Standardmodells handelt", sagte Prof. Achim Stahl von der Technischen Hochschule Aachen. "Es könnte auch ein Higgs-Teilchen sein, dass nicht ins Standardmodell passt, oder etwas gänzlich Unerwartetes."

Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU) gratulierte den Forschern in Genf zur Entdeckung eines neuen Teilchens. Das Forschungsministerium ist nach eigenen Angaben der größte CERN-Förderer. Es zahle jährlich rund 180 Millionen Euro und damit etwa 20 Prozent der Mitgliedsbeiträge des CERN-Haushaltes. Aus Deutschland stammen auch viele Bauteile der Teilchendetektoren.

Wozu dieser Aufwand, wofür so viel Geld? Die Tragweite von Peter Higgs' Theorie wird deutlich, wenn man sich klarmacht, dass zumindest die Welt, die wir kennen - Sterne, Planeten, Menschen, Pflanzen, Tiere - aus Materie besteht. Damit lassen sich zwar nur etwa vier Prozent der messbaren Masse und Energie im Universum erklären. Der Rest verbirgt sich noch, ist vermutlich gefüllt mit der geheimnisvollen Dunklen Materie und der Dunklen Energie. Aber aus unserer Sicht machen die vier Prozent eben ziemlich viel aus.

Um zu beschreiben, wie sich diese sichtbaren Bauteile des Kosmos zusammensetzen und welche Kräfte zwischen ihnen wirken, entwarfen Physiker in den 1960er-Jahren das Standardmodell der Teilchenphysik. Es beinhaltet Materieteilchen, Kraftteilchen und als zentralen Baustein das Higgs. Das Standardmodell war zunächst ein weitestgehend unbestätigtes Konstrukt; erst wenige Elementarteilchen, etwa das Elektron, waren bis dato tatsächlich nachgewiesen worden. In den folgenden Jahrzehnten gelang es Physikern jedoch mithilfe von Teilchenbeschleunigern, fast alle vorhergesagten fehlenden Mitglieder der Teilchenschar zu finden.

Nur das Higgs blieb verborgen, dabei spielt es eine zentrale Rolle. Denn mit mathematischen Formeln lässt sich zwar exakt beschreiben, welche Kräfte zwischen den Teilchen in der Natur wirken und welches Verhalten daraus folgt - solange man davon ausgeht, dass die Partikel keine Masse haben. Masselos sind aber nur Lichtteilchen (Photonen) und Gluonen. Wären alle Teilchen masselos, bewegten sie sich so schnell wie das Licht; es gäbe keine Zusammenballungen: keine Menschen, keine Erde.

+++ Higgs-Teilchen: Der letzte unbekannte Baustein der Materie +++

Abhilfe schafft der von Peter Higgs beschriebene Mechanismus. Er wird oft verglichen mit einer Party; die Gäste bilden dabei das sogenannte Higgs-Feld. Plötzlich erscheint am Eingang ein Popstar. Er möchte zur Bar am Ende des Raumes, doch sofort scharen sich viele Gäste um ihn und machen ihn damit langsamer - so, als gewinne er an Gewicht. Das Higgs-Teilchen ist in dieser Analogie das Gerücht, ein Popstar sei im Anmarsch: Sofort sammeln sich Fans an der Tür. Das Gerücht pflanzt sich durch den Raum fort und verursacht so eine wandernde Zusammenballung. Da das Higgs-Feld unsichtbar ist, versuchen Physiker, es über seine Schwingungen zu "erfühlen". Mit Luft ist so etwas einfach: Man muss nur mit den Händen klatschen und hört diese Wellen als Töne. Ungleich schwerer ist es, Wellen im Higgs-Feld zu erzeugen. Dazu braucht es Teilchenbeschleuniger.

Die weltweit stärkste Maschine dieser Art betreibt das CERN bei Genf. Etwa 100 Meter unter der Erde gelegen, bildet der Large Hadron Collider (LHC) eine 27 Kilometer lange Kreisbahn. Entlang der Strecke befinden sich vier Detektoren, darunter ATLAS und CMS. Allein ATLAS ist 46 Meter lang und mit einem Gewicht von 7000 Tonnen so schwer wie der Eiffelturm. Im LHC werden Atomkerne, genauer: Protonen mithilfe elektromagnetischer Felder beschleunigt und gegenläufig losgeschickt. Fast mit Lichtgeschwindigkeit rasen so mehrere Protonenstrahlen durch den Tunnel, bis sie an den Detektoren zum Zusammenstoß gebracht werden. Dabei zerfallen die Partikel und es entstehen neue Teilchen. Auf ihren Wegen hinterlassen sie elektrische Signale. Aus der Energie der Partikel schließen die Forscher auf deren Masse. Weil sie wissen, welche Partikel welche Masse haben, können sie die Signale bestimmten Teilchen zuordnen. Mit diesen Experimenten simulieren die Forscher Bedingungen, die so wohl kurz nach dem Urknall herrschten, als alle Partikel entstanden, die heute bekannt sind - auch das Higgs. Es lebt allerdings nur extrem kurz und zerfällt dann in andere Partikel, etwa zwei Photonen.

Bei ihrer Suche in fünf Zerfallskanälen entdeckten die Forscher nun Ausschläge im Massebereich von 125 bis 126 Gigaelektronenvolt (GeV) - damit wiegt das Teilchen etwa so viel wie ein Cäsium-Atom. Wenn es das vom Standardmodell vorhergesagte Higgs-Boson wäre, würde dies die Theorie vom Higgs-Feld bestätigen. Physiker könnten Materie schlüssig beschreiben - allerdings nicht deren Vielfalt erklären. Warum das Gewicht der Teilchen variiert, warum etwa ein Elektron 2000-mal leichter ist als ein Proton, bliebe auch nach dem Nachweis des Higgs unklar; ob das Standardmodell überarbeitet werden muss, ist offen.

Ziemlich sicher ist hingegen seit gestern, dass Peter Higgs und wohl auch die fünf Mitbegründer der Massetheorie den Nobelpreis erhalten werden. Alles andere wäre eine Überraschung.