Das Higgs-Teilchen ist wohl entdeckt, trotzdem bleiben viele Phänomene im Universum mysteriös. Was wir sehen, aber nicht verstehen – ein Überblick.

Hamburg. Von einem "historischen Meilenstein" sprach Cern-Direktor Rolf-Dieter Heuer am Mittwoch, nachdem seine Forscher bekannt gegeben hatten, dass sie höchstwahrscheinlich auf das lange gesuchte Higgs-Boson gestoßen seien. Bereits 1964 von dem Physiker Peter Higgs vorhergesagt, bildet das Partikel das zentrale und bis zuletzt unbewiesene Element des Standardmodells der Teilchenphysik, das unsere Welt beschreibt.

Higgs zufolge umgibt uns ein unsichtbares Feld: Jedes Teilchen, das hindurchfliegt, wird langsamer und hat somit eine Masse. Das erklärt, warum es Materie gibt: uns Menschen, Planeten wie die Erde, Sterne wie die Sonne. Das Feld gibt sich nur durch seine Schwingungen zu erkennen - in Form von Higgs-Teilchen. Damit ist aber noch längst nicht alles klar; denn das Standardmodell kann nur einen kleinen Teil des Universums erklären. Etliche Phänomene geben Physikern weiterhin Rätsel auf. Was wir sehen, aber nicht verstehen - ein Überblick:

Dunkle Materie

Mindestens 100 Milliarden Sterne sowie 50 Milliarden Planeten, so schätzen Astronomen, gibt es allein in der Milchstraße, unserer Galaxie. Doch nur etwa vier Prozent der für uns sichtbaren und messbaren Masse im Universum scheinen der uns vertrauten Materie zu entsprechen - wie sich der gewaltige, unsichtbare Rest zusammensetzt, ist ein Mysterium. Ungeklärt ist in diesem Zusammenhang Folgendes: Obwohl die Galaxien zu ihren Rändern hin immer schneller rotieren wie gigantische Karussells und deshalb durch die Fliehkraft eigentlich auseinanderfliegen müssten, scheint eine geheimnisvolle Masse sie zusammenzuhalten, eine Art Sternenkitt. Sie leuchtet nicht und reflektiert kein Licht, sie gibt sich nur durch ihre Anziehungskraft (Gravitation) zu erkennen: Dunkle Materie. Dieser Stoff soll etwa 23 Prozent des Universums ausmachen.

Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie zufolge krümmt die Schwerkraft den Raum und lenkt Licht ab. Dieser Effekt ist umso größer, je mehr Masse ein Körper hat. So kreist etwa die Erde um die Sonne, weil diese den Raum (den man sich für dieses Beispiel als eine Fläche vorstellen darf) eindellt und dadurch unseren Planeten festhält. Viele Astrophysiker gehen davon aus, dass Dunkle Materie aus Teilchen besteht, die viel Masse haben. Verbände aus solchen Teilchen würden Licht ablenken; durch diesen Mechanismus sollten sie sich indirekt offenbaren. Diesen Ansatz verfolgt zumindest ein Team um Jörg Dietrich von der Universitäts-Sternwarte München.

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Die Forscher wiesen nun bei den zwei Galaxienhaufen Abell 222 und Abell 223 nach, dass das Licht hinter diesen Galaxien verzerrt wird - vermutlich, glauben die Forscher, durch die gravitative Wirkung der Dunklen Materie. Dies sei der erste stichhaltige Beleg für die These, dass ein Netz aus Dunkler Materie das Weltall durchzieht, schreibt das Team vorab in der Online-Ausgabe des Journals "Nature". An den Kreuzungspunkten dieses Netzes könnten Galaxienhaufen entstanden sein, in denen mehrere Galaxien wie unsere Milchstraße existieren.

Nach bisher unbekannten massereichen Teilchen suchen Forscher auch bei mehreren Experimenten, die im Innern des Gran-Sasso-Massivs in Italien stattfinden. Mit speziellen Detektoren versuchen die Forscher, sogenannte Wimps (Weakly Interacting Massive Particles) aus der kosmischen Strahlung herauszufiltern, die permanent auf die Erde niedergeht.

Einer anderen Idee gehen Physiker am Cern nach. Der Theorie der Supersymmetrie (SUSY) zufolge hat jedes der bisher entdeckten Elementarteilchen noch ein Partnerteilchen. In der Natur traten sie nur kurz nach dem Urknall auf. Das leichteste dieser Teilchen könnte allerdings noch existieren und die Dunkle Materie bilden. Am Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider (LHC) in Genf, wo jetzt wahrscheinlich der Nachweis des Higgs-Bosons gelang, versuchen die Wissenschaftler, SUSY-Teilchen zu erzeugen - bisher allerdings erfolglos.

Dunkle Energie

Das Weltall wächst nicht immer langsamer, wie Forscher seit den 1920er-Jahren annahmen, sondern immer schneller - zu diesem Schluss kamen die Astronomen Saul Perlmutter, Brian Schmidt und Adam Riess. Sie hatten explodierende Sterne studiert und dabei gemessen, dass diese sogenannten Supernovae sich in zunehmendem Tempo von uns entfernen. Dafür könnte eine unbekannte Kraft verantwortlich sein, die Dunkle Energie. Sie füllt vermutlich etwa 73 Prozent des Universums. Offenbar, so lassen es die Erkenntnisse der Forscher vermuten, ist die Dunkle Energie stärker als die Dunkle Materie, welche Galaxien zusammenhält. Für diese Entdeckung erhielt das Trio 2011 den Nobelpreis für Physik. Hinweise auf die rätselhafte Kraft finden soll etwa das Röntgenteleskop ROSITA, das am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in München entwickelt wird. An Bord des russischen Satelliten Spectrum-X-Gamma wird das Instrument ab 2013 weit entfernte Galaxienhaufen mustern, um Vorstellungen von der Dunklen Energie zu überprüfen.

Antimaterie

Zu jedem Elementarteilchen gibt es ein Antiteilchen, das über die gleiche Masse, aber eine entgegengesetzte elektrische Ladung verfügt (nur die neutralen Neutrinos haben neutrale Antiteilchen). Das ist schon lange bekannt und bewiesen: Erstmals vorhergesagt hatte den Stoff 1928 der britische Physiker Paul Dirac. Kurz darauf wurde Antimaterie experimentell bestätigt - und Dirac erhielt den Nobelpreis. Zur Anwendung kommt Antimaterie in der Medizin: In PET-Scannern (Positronen-Emissions-Tomografie) werden Antiteilchen der Elektronen, die Positronen, genutzt, um zum Beispiel Tumore zu erkennen. Schwieriger ist es, ganze Anti-Atome herzustellen. Forschern am Cern in Genf gelang es immerhin mehrfach, Anti-Wasserstoffkerne zu erzeugen und zu vermessen - wenn auch nur für maximal 17 Minuten.

Auf der Erde existiert Antimaterie also. Aber wo ist die Antimaterie im Weltraum hin? Der Urknalltheorie zufolge entstanden vor 13,7 Milliarden Jahren zunächst Materie und Antimaterie in gleichen Mengen. Da sich diese beiden aber prinzipiell gegenseitig auslöschen, sollte nur Licht übrig geblieben sein. Tatsächlich existiert offensichtlich Materie, etwa in Form der Planeten. Eine These ist, dass im Kosmos bisher unentdeckte Bereiche aus Antimaterie existieren könnten. Nach Hinweisen darauf sucht etwa das Alpha-Magnet-Spektrometer, ein Instrument auf der Internationalen Raumstation.

Eine andere These geht davon aus, dass sich Materie und Antimaterie nach dem Urknall minimal unterschiedlich verhielten, sodass etwas Materie übrig blieb. Lange nahmen Physiker an, dass Antiteilchen sich genauso verhalten wie ihre Gegenparts. Doch 1972 wiesen japanische Physiker eine Abweichung zwischen schweren Quarks und ihren Antiteilchen nach. Zu einer solchen sogenannten CP-Verletzung könnte es nach dem Urknall gekommen sein. Deshalb suchen Physiker auch im restlichen Standardmodell nach Abweichungen zwischen Teilchen und Antiteilchen, etwa bei Neutrinos. Das Interessante an diesen fast masselosen Partikeln ist, dass es drei Arten von ihnen gibt, die sich im Flug jeweils in eine andere Art verwandeln können.

Diese sogenannte Neutrino-Oszillation untersuchen Experimente wie OPERA mit einem Detektor, der im Gran-Sasso-Massiv untergebracht ist. Er misst Teilchenstrahlen, die 732 Kilometer entfernt am Cern in Genf erzeugt werden. Ergäben diese und weitere Tests, dass sich Neutrinos häufiger umwandeln als Antineutrinos, ließe sich damit womöglich rekonstruieren, was nach dem Urknall geschah.