Der schwierige Versuch, 30 Kilometer in die Tiefe zu blicken: Deutsche Geowissenschaftler und ihre Kollegen wollen die nächsten Erschütterungen in Chile so präzise vermessen wie noch niemals zuvor.

Das starke Beben in der Region um die chilenische Stadt Concepción musste kommen. Geoforscher Onno Oncken vom Helmholtz-Zentrum Potsdam (Deutsches GeoForschungsZentrum, GFZ) und seine Kollegen in aller Welt wussten das. Denn die zerstörerischen Wellen aus dem Untergrund treffen alle 100 bis 200 Jahre jede Region dieses lang gestreckten Landes. Naturforscher Charles Darwin hatte das letzte Megabeben mit einer Stärke von 8,5 in Concepción am 20. Februar 1835 miterlebt. Am 22. Februar 2010 stellte Onckens Mitarbeiter Marcos Moreno seine Doktorarbeit vor, in der er das erwartete nächste Erdbeben nahe seiner Heimatstadt Concepción gut abgeschätzt hat. Ob das Riesenbeben allerdings morgen, in einem Jahr, im nächsten Jahrzehnt oder vielleicht erst in den 2030er-Jahren erschüttern würde, wusste niemand. Diese Frage beantwortete der Untergrund fünf Tage später am 27. Februar 2010 um halb vier Uhr in der Nacht mit einem 8,8 starken Beben, das die Stadt in Schutt und Asche legte.

Solche zerstörenden Erschütterungen entstehen viele Kilometer unter der südamerikanischen Pazifikküste. Dort schiebt sich die riesige Nazca-Platte, die den südöstlichen Teil des Pazifiks trägt, unter die südamerikanische Platte. Immer wieder verhaken sich beide Platten. Auch wenn sich eine Platte nur einige Zentimeter im Jahr bewegt, kommen in einem Jahrhundert ein paar Meter zusammen. An der verhakten Stelle baut sich eine gewaltige Spannung auf. Löst sich der Haken, holt die Platte die fehlende Bewegung vieler Jahrzehnte in Sekunden nach. Das geschah in 30 Kilometer Tiefe am 27. Februar 2010.

Zum Herunterladen: Weltkarte Erdbeben und Vulkane (PDF)

Das größte Problem der Erdbebenforscher fasst Oncken zusammen: "Wir können die Vorgänge in der Tiefe nicht direkt beobachten, in der solche Erdbeben entstehen." So erreicht die tiefste Bohrung mit zwölf Kilometern nicht mal die Hälfte der Distanz. Aus Erdbebenwellen und anderen raffinierten Messungen an der Oberfläche versuchen die Forscher, den Verhältnissen in der Tiefe näher zu kommen. Dazu braucht man einen langen Atem, weil man auf das nächste Beben wartet.

Jetzt haben sich die Forscher aus Deutschland, Frankreich und Chile eine Region ausgesucht, in der das nächste Beben überfällig ist. Aus alten Berichten schließt Oncken, dass die gut 400 Kilometer lange Region zwischen der peruanischen Grenze und der chilenischen Küstenstadt Antofagasta alle 110 bis 120 Jahre von einem gewaltigen Beben erschüttert wird. 1877 erreichte das vorerst letzte Megabeben die Stärke 8,8. In unmittelbarer Nachbarschaft gab es im Süden von Antofagasta 1995 ein Beben der Stärke 8,1. 2001 erschütterte ein Beben der Stärke 8,4 das Gebiet unmittelbar nördlich der peruanischen Grenze. Zwischen diesen Regionen ist das nächste Megabeben also "überfällig". Weil die Nazca-Platte in der Region seit 1877 auf 400 Kilometern einen Ruck von gut acht Metern nachholen muss, erwartet Oncken dort ein Beben, das die Stärke 9 erreichen kann.

Wann es so weit ist, weiß niemand. Aber wenn es kracht, wird der Forscher die Erschütterungen so gut beobachten wie kein anderes Megabeben zuvor. Denn in den letzten Jahren hat er mit Kollegen so viele Messinstrumente in die Region gestellt, dass sie jetzt praktisch eine 400 Kilometer riesige Antenne bilden. Damit fangen die Geoforscher die Signale auf, die vor, während und nach dem Beben aus der Tiefe bis an die Oberfläche dringen. Mit dieser überdimensionalen Lauschstation will Oncken ein Erdbeben live und online beobachten.

Kern einer solchen Messstation ist ein Breitbandseismometer. Dieses Gerät misst die Wellen, die bei einer Erschütterung durch den Untergrund laufen. Allerdings erfassen die Forscher nicht nur normale Beben, die in wenigen Sekunden oder Minuten vorbei sind, sondern auch solche, die nicht einmal die Stärke 2 erreichen, sowie andere, die Monate dauern können. Solche "stillen Erdbeben" setzen zwar genau wie normale Beben sehr viel Energie frei. Das geschieht aber so langsam, dass ein Mensch gar nichts spürt. "Stille Erdbeben" entstehen in sehr großen Tiefen. "Vielleicht ist das Gestein dort ähnlich zähflüssig wie ein Kuchenteig", vermutet Oncken.

Die Forscher wissen fast nichts über solche stillen Beben, weil sie kaum gemessen werden können. So überdecken die stärkeren Schwingungen durch ein vorbeifahrendes Auto die natürlichen Bewegungen. In der Küstenwüste im Norden Chiles aber gibt es in riesigen Gebieten weder Mensch noch Verkehr, die Seismografen werden nicht gestört.

Je mehr Signale die Geräte empfangen, desto präziser sind sie. So bauen die Forscher in der chilenischen Wüste etliche Messstationen.

Damit weder Schwankungen noch die Luftfeuchte die Messungen verfälschen, sprengt man in vier oder fünf Meter Tiefe einen kleinen Raum in den Felsen, in dem die Instrumente ungestört messen.

Ein starkes Beben würde die empfindlichen Breitbandseismometer aber überfordern. Deshalb bauen die Forscher noch Beschleunigungsmesser in die Felskammern, die auch stärkste Erschütterungen gut registrieren. Auf dem Hügel über der Kammer befindet sich ein GPS-Gerät, das Veränderungen an der Oberfläche misst. Verhakt sich die Nazca-Platte, beult sie den oben liegenden Kontinent ein wenig aus. Holt die Platte dann bei einem Beben die versäumte Bewegung nach, fällt die Beule in sich zusammen. Diese Veränderungen registriert das GPS-Gerät. Daneben gibt es noch "Kriechmessgeräte", die erfassen, wie stark sich die Oberfläche dehnt. Neigungsmesser registrieren, wie die untergleitende Nazca-Platte die chilenische Küste auf der einen Seite hebt und auf der anderen Seite ein klein wenig mit in die Tiefe zieht. Dabei neigt sich das Land ein wenig und das Gerät misst diese Änderung.

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Lange Elektroden reichen von den Stationen im Untergrund 200 Meter weit und erfassen das elektromagnetische Feld in der Erde sehr genau. Strömt in 30 oder mehr Kilometer Tiefe salzhaltiges Wasser in Spalten und Klüfte, die von Plattenbewegungen aufgerissen werden, verändern sie dieses Feld auch an der Oberfläche minimal - die Geräte messen das.

Die riesige Lauschstation ist fertig, Am 15. und 19. März übergeben die europäischen Forscher den Betrieb der Anlage an zwei chilenische Universitäten in Santiago und Antofagasta. Von dort werden die Daten nach Potsdam gesendet. Zusammen sollen die Messungen das Bild von den Vorgängen tief unter der Oberfläche verbessern. So hofft man, die Gefahr besser vorhersagen zu können. Damit wäre einiges gewonnen in einer Region, deren Minen ein Drittel des auf der Welt verwendeten Kupfers und große Mengen des in Batterien unentbehrlichen Lithiums liefern. Mit den heutigen Mitteln der Naturwissenschaft lässt sich der genaue Zeitpunkt eines Bebens jedenfalls nicht ermitteln. "Da muss ich in meine Kristallkugel schauen", sagt Oncken. Exakte Prognosen liegen noch in ferner Zukunft. Wenn sie überhaupt jemals möglich sind.