Wie Rückenmarksverletzungen wie die von Wettkandidat Samuel Koch behandelt werden, erläutert der Hamburger Unfallmediziner Roland Thietje

Hamburg. Die schwere Verletzung der Halswirbelsäule, die sich der Student Samuel Koch bei seinem Sturz in der ZDF-Sendung "Wetten, dass ..?" zugezogen hat, war auch für viele Zuschauer ein Schock. Zweimal ist Koch schon operiert worden, eine dritte OP sei aber nicht vorgesehen, sagte gestern eine Sprecherin des Düsseldorfer Uniklinikums, wo Koch behandelt wird. Ob er dauerhafte Lähmungen davontragen wird, ist offen. Wie steht es um die Heilungsaussichten nach solchen Verletzungen? Das Abendblatt sprach mit Dr. Roland Thietje, Chefarzt des Querschnittgelähmtenzentrums am Unfallkrankenhaus Hamburg-Boberg.

Warum ist die Verletzung der Halswirbelsäule so gefährlich?

In der Wirbelsäule verläuft das Rückenmark als Verbindung zwischen Gehirn und Körperperipherie. Es besteht aus Tausenden von Nervensträngen und ist geschützt durch einen Kanal, der begrenzt wird durch die Wirbelkörper auf der Vorderseite und die Wirbelbögen auf der Rückseite. Auf Höhe jedes Wirbelkörpers treten einige Nervenstränge aus, die sich dann in der Peripherie verzweigen. Das kann man sich vorstellen wie einen dicken Kabelstrang, der nach unten immer dünner wird. Wenn diese Nerven im Rückenmark bei einer Verletzung durch Knochensplitter oder Quetschungen geschädigt werden, können die entsprechenden Körperbereiche nicht mehr von Nerven versorgt werden - Lähmungen sind die Folge.

Verletzungen der Halswirbelsäule sind besonders gefährlich, weil es an dieser Stelle nur wenige Nervenabzweigungen gibt. Deshalb sind Lähmungen möglich, die den ganzen Bereich ab der verletzten Stelle betreffen. Generell gilt: Je höher die Verletzungsstelle, desto größer der Schaden.

Bei der Verletzung welcher Wirbel kann es zu welchen Schäden kommen?

Im Bereich der Halswirbelsäule wird die Diagnose durch die sogenannten Kennmuskeln erleichtert. Das bedeutet, dass die Lähmung eines bestimmten Muskels auf die Verletzung in einer bestimmten Höhe hinweist - und umgekehrt die Verletzung eines Wirbels auf die Lähmung des entsprechenden Kennmuskels. So führt etwa die Verletzung des fünften Halswirbels zur Lähmung des Bizepsmuskels. Je höher die Verletzung liegt, desto problematischer wird es. Wenn etwa die Zwerchfellmuskeln nicht mehr funktionieren, folgt daraus eine Lähmung des Zwerchfells mit Atemeinschränkungen.

Wie kann man Wirbelsäulenverletzungen behandeln?

Man muss unterscheiden zwischen strukturellen Verletzungen, bei denen die Nervenfasern wirklich zerstört sind, und einer indirekten Schädigung durch eine Quetschung. Die Therapie bezieht sich niemals auf den Rückenmarksschaden selbst. Auf keinen Fall wird am Rückenmark operiert, um dort eine Verbesserung der Nervenfunktion zu erreichen. Operativ kann man zwei Dinge tun: Man kann das Rückenmark entlasten und die Wirbelsäule stabilisieren. Die Entlastung erreicht man durch Entfernung von Knochenteilen oder Blutergüssen. Damit wird auch Platz geschaffen, damit sich eine Schwellung ausbreiten kann. Die Stabilisierung der Wirbelsäule führt man deshalb durch, um Folgeschäden am Rückenmark zu vermeiden und den Patienten schnell wieder zu mobilisieren.

Welches sind die häufigsten Folgen einer Rückenmarksverletzung?

Am häufigsten sind Verletzungen im Bereich der Lendenwirbelsäule, weil die physiologische Schwingung der Wirbelsäule dort einen Scheitelpunkt hat. Eine Verletzung in diesem tiefen Bereich kann jedoch ausschließlich zur Lähmung der unteren Extremitäten führen. Eine Verletzung der Halswirbelsäule geht einher mit einer Funktionseinschränkung der oberen Extremitäten, also der Arme. Die meisten Verletzungen betreffen mit rund zwei Dritteln die unteren Extremitäten; ein Drittel aller Verletzungen fällt auf Lähmungen einschließlich der Arme.

Kann sich die Lähmung zurückbilden?

Bei vollständiger Durchtrennung des Rückenmarks ist die Chance einer Regeneration sehr gering. Bei einer Teilschädigung, etwa einer Quetschung, kann es sein, dass Teile des Rückenmarks nicht in ihrer Struktur zerstört sind. Ist nur eine Funktion eingeschränkt, ist die Prognose günstiger.

Wie schwer ist die Prognose der möglichen Schädigung?

Bei einer kompletten Nervenverletzung (Läsion) beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass keine brauchbare Funktion zurückkehrt, über 80 Prozent. Die komplette Läsion wird festgestellt, wenn im tiefsten Segment der Wirbelsäule, im Sakralbereich am Darmausgang, keine Nervenfunktion gemessen werden kann. Bei einer traumatischen Lähmung, die unmittelbar zu einem kompletten Funktionsverlust führt, ist die Chance auf eine Wiederherstellung noch wesentlich geringer.

Welche Strategien helfen, mit der Behinderung umzugehen?

Es ist natürlich, wenn man nach dem Unfall in ein Loch fällt. Es hat sich aber gezeigt, dass sich die Patienten am besten erholen und auch wieder am Arbeitsleben teilnehmen können, die sich schnell mit der neuen Situation auseinandersetzen und nach vorne schauen. Die Höhe der Lähmung hat keinen Einfluss darauf, wie der Mensch mit seiner Behinderung zurechtkommt.