Flucht aus der Heimat, Stress zu Hause, Alkoholsucht. Bianca, Calvin, Dominique und Mayram haben in unterschiedliche Abgründe geschaut und sich wieder aufgerafft. Geholfen hat ihnen dabei die Unterkunft in den Jugendwohnungen des Rauhen Hauses – und der Glaube an sich selbst

„Ich werde so sehr gebraucht, das gibt mir viel Kraft“

Ganz gelassen, mit einem kleinen Lächeln im Gesicht sitzt Bianca auf ihrem Stuhl und beobachtet ihren zehn Monate alten Sohn John-Rando, der durch den Gemeinschaftsraum der Mutter-Kind-Einrichtung des Rauhen Hauses in Eidelstedt krabbelt. Mutter mit 19 Jahren, alleinerziehend, ohne Ausbildung und Job – Bianca hätte viele Gründe, verzweifelt zu sein. Ist sie aber nicht. Im Gegenteil, Bianca ist so glücklich wie seit Jahren nicht. „Johnny hat mir gezeigt, dass sich das Leben lohnt, dass man sich nicht aufgeben sollte“, sagt sie ernst. Sie ist reif für ihr Alter, sehr offen. Sie ist froh, nicht untergegangen zu sein – sie war so kurz davor. Sie war ganz unten, und sie hat alleine rausgefunden. Darauf ist sie stolz.

Es war ihr 13. Geburtstag, das weiß Bianca noch wie gestern. Denn das war der Tag, an dem ihr Leben aus den Fugen geriet. Da hat ihr ihre Mutter gesagt, dass sie einen Freund hat, kurz darauf ist Biancas Vater aus der Barmbeker Wohnung ausgezogen. „Das kam so plötzlich. Bis dahin hatte ich ein normales Leben, eigentlich eine schöne Kindheit. Auch wenn mein Vater immer viel gearbeitet hat“, sagt die 19-Jährige. Danach war nichts mehr normal. Sie zog zu ihrem Vater, die jüngere Schwester blieb bei der Mutter. Der Vater arbeitete im Schichtsystem, war wenig da. Bianca war alleine mit ihrem Kummer. Und musste für sich sorgen, einkaufen, kochen, putzen. „Das hat mich total überfordert. Ich ging raus, fuhr irgendwohin mit der U-Bahn, stundenlang.“ Irgendwann landete sie am Hauptbahnhof, traf ältere Jugendliche, die sie scheinbar verstanden. „Die meisten hatten wie ich ein Problem zu Hause“, sagt Bianca. Und die meisten betäubten die Probleme mit Alkohol und Drogen. Bianca machte alles mit. „Ich war dann lustiger drauf, habe diesen Schmerz, diese Einsamkeit in mir vergessen. Ich habe einfach Party gemacht.“ Sie war auf dem Kiez, auf dem Dom, am Bahnhof. Die Realschülerin schwänzte die Schule, bis diese Alarm schlug. Mit 14 Jahren zog Bianca dann zu ihrer Oma ins Alte Land – eine Idylle, die sie einengend fand. Mehrmals die Woche haute sie ab, fuhr wieder zum Hauptbahnhof. Für sie waren diese Bahnhofskinder eine Art Familienersatz.

Aber sie ging zur Schule, machte ihren Hauptschulabschluss – und zog danach zurück nach Hamburg. Da war sie 16. Sie übernachtete bei Freunden, zog von einer Wohnung zur anderen. Sie war obdachlos, fühlte sich ungeliebt, in einem Leben ohne Ordnung und Rahmen. „Das war richtig furchtbar“, sagt Bianca traurig und drückt ihren Sohn fest an sich.

Sie trank nun intensiv, nahm Drogen. Es ging nur noch bergab. „Ich habe in den Tag gelebt, als wäre es mein letzter. Ich hatte nichts zu verlieren, dachte ich. Irgendwann hing ich mit Leuten ab, die unter der Brücke schliefen, die ganz tief unten waren.“ Es gab Zeiten, da wachte sie auf und wusste nicht mehr, was vorher geschehen war. „Ich hatte einfach Zeitlücken, und meine Freunde erzählten mir, dass ich entweder verzweifelt geheult oder andere angepöbelt hätte.“ Da fing es an, in ihr zu arbeiten. In den klaren Momenten zwischendurch wusste sie, dass das Leben nicht so weitergehen konnte, dass sie nicht noch tiefer sinken wollte. Den Ausschlag, endlich auszusteigen, gab ihre kleine Schwester. „Die war damals 13 und hing mit uns auf dem Dom rum, fing an zu trinken, und ich dachte nur, sie soll nicht so enden wie ich.“

Mit 17 wurde sie schwanger, von ihrem alkoholkranken Freund trennte sie sich

Bianca zog die Reißleine. Sie ging zum Jugendamt, bat um Hilfe. Geholfen hat ihr aber das Kids – eine Anlaufstelle für Straßenkinder – am Hachmannplatz, das sie schon vorher öfters besucht hatte. Eine Haltestelle in ihrem Leben. „Die haben mir ganz schnell geholfen und mich in einer ihrer Wohnungen untergebracht.“ Dort hat es klick in ihr gemacht. Es gab ein Dach über dem Kopf, feste Regeln, Hoffnung. Dort hörte Bianca mit den Drogen auf und fand eine Arbeit beim Sicherheitsdienst. Dann wurde sie schwanger, mit 17. Ihr Freund war Alkoholiker. „Von dem habe ich mich getrennt“, sagt sie fast sachlich. Die Trennung war nichts, was sie wirklich runterzog, denn sie war innerlich schon auf dem Weg nach oben – aus eigener Willenskraft. Zwei Wochen vor der Geburt zog sie in die Mutter-Kind-Einrichtung des Rauhen Hauses. Hier teilt sie die Wohnung mit einer jungen Mutter, auch hier gibt es feste Regeln, das mag sie. Und, dass sie sich auf die Betreuer verlassen kann. „Das habe ich nicht so erlebt vorher, und das gibt mir viel Sicherheit und Halt.“ Das ist wohl die tiefste Enttäuschung in ihrem Leben, in ihrer schwierigen Phase keinen Halt durch die Eltern gehabt zu haben. „Ich kann nicht verstehen, warum meine Mutter ihren Freund mir vorgezogen hat“, sagt sie.

Bianca wollte das Kind und findet im Moment, dass ihr Sohn das Beste ist, was ihr passieren konnte. Sie ist eine gute Mutter, sagt ihre Betreuerin, liebevoll und geduldig. Sie strahlt viel Ruhe aus. „Mir gibt derzeit viel Kraft im Leben, dass ich so gebraucht werde. Von dem Kleinen, aber auch von meiner Schwester: Ihr will ich ein Vorbild sein und für ihn immer da sein“, sagt sie.

Und sie sagt auch, dass sie den Glauben an sich wiedergefunden habe. Sie hat wieder Kontakt zu ihrer Mutter, die sich inzwischen von dem Freund getrennt hat und sich gern um ihren Enkel kümmert. Und Bianca hat endlich einen Fahrplan für ihr weiteres Leben: Das Kind kommt im Juni in die Kita, sie macht ein Praktikum als Malerin und Lackiererin.

Zum Abschluss sagt sie noch: „Ich bin ein starkes Mädchen, das war ich schon immer, ich war nur zwischendurch schwach.“